WM 2014: Die Strategie für überraschende Hymnen
Unser WM-Kolumnist glaubt, dass das Singen bei der WM überschätzt wird: Brüh' im Lichte dieses Ghanas.
Bei der WM sind viele Experten unterwegs. Die alles vorher gewusst haben. Aber alles! Dass Spanien raus ist, zum Beispiel. Ist vielen Experten nachher schon vorher klar gewesen. Nicht mehr hungrig, zu alt, Ära vorbei. Dabei galt Spanien als einer der großen Favoriten. Bei Deutschland verhält es sich genau umgekehrt. Keine Chance!, hieß es. Nicht in Form, viele Verletzte und vor allem keine Mittelstürmer! Jetzt sagen alle: Was brauchen wir Stürmer?! Wir spielen mit Müller und notfalls zehn Innenverteidigern! Wussten wir vorher alles. Was wir nicht wussten, ist, dass ein Selfie mit Lukas Podolski und der Kanzlerin über 450.000 Likes bei Facebook erhalten könnte. Das sagt sicher einiges aus. Was genau, das überlasse ich Ihnen.
Heute gegen Ghana mache ich mir überhaupt keine Sorgen. Mit Hummels fällt zwar möglicherweise ein Innenverteidiger aus. Aber wir haben noch jede Menge Innenverteidiger. Der halbe Kader besteht ja praktisch aus Innenverteidigern.
Was auch schön ist: Durch den hohen Sieg gegen Portugal interessiert es jetzt niemanden mehr, ob die Hymne von den Spielern mitgesungen wird. Niemanden? Nicht ganz. Der CSU-Politiker Hans-Peter Uhl forderte vor ein paar Tagen noch mal eine „Sing-Pflicht“, und kein leises „Murmeln“. Vor zwei Jahren hatte ja Gerhard Mayer-Vorfelder noch behauptet, wer nicht singe, sei nur ein halber Deutscher. Was natürlich Quatsch ist. Dieter Bohlen ist bestimmt ein ganzer Deutscher und kann auch nicht singen. So einfach ist die Sache eben nicht. Mesut Özil zum Beispiel hat gar keine Zeit, zu singen. Weil er während der Hymne für die Gesundheit der Mannschaft betet. Ich finde das auch wichtig, Gesundheit. Manch andere singen nicht, weil sie den Text nicht kennen. Finde ich auch nicht schlimm. 1954 haben die deutschen Zuschauer nach dem WM-Sieg kollektiv die falsche Strophe gesungen. Und Sarah Connor hatte vor einigen Jahren mit „Brüh im Lichte dieses Glückes...“ auch schon eigene Textvorstellungen.
Jürgen Klinsmann hat angekündigt, nächsten Donnerstag, wenn seine Amerikaner gegen sein Deutschland spielen, beide Hymnen zu singen. Das wäre eine Strategie für heute Abend. Wenn Özil und all die anderen die Hymne von Ghana mitsängen. Dann wäre die Verwirrung komplett. Von dem Schock erholen sich die Ghanaer (Ghanesen?) nicht!
Ich glaube dennoch, das Singen wird überschätzt.
Ein DDR-Schwimmtrainer hat einst auf die Frage, warum seine Athletinnen so eine tiefe Stimme hätten, geantwortet: „Die sind nicht zum Singen hier, sondern zum Schwimmen!“ Wenn wir allerdings im Achtelfinale ausscheiden, sollten wir einen Männerchor ins Rennen schicken. Und keinen Trainer mitnehmen, sondern einen Dirigenten. Mayer-Vorfelder?
Frank Lüdecke