WM 2014 - von Spanien bis Costa Rica: Die Opfer und die Helden der Vorrunde
Zu den ersten Opfern der WM gehören Spanien und England. Zu den ersten Qualifikanten für das Achtelfinale die Zwerge Costa Rica und Chile. Das zeigt, wie wichtig Leidenschaft ist.
Kommt ja nicht so überraschend, dass dieses letzte Spiel in der Gruppe D am Dienstag eher überflüssig ist. England gegen Costa Rica, das versprach von vornherein wenig Spannung für das Publikum im Estadio Mineirao von Belo Horizonte. Einer ist schon weiter und der andere raus, doppelter Sieger gegen doppelten Verlierer. Wenn der ehemalige Weltmeister antritt gegen eine Mannschaft, die erst einmal die WM-Vorrunde überstanden hat, dann kann natürlich nur...
Halt, an dieser Stelle bekommt Cesare Prandelli das Wort. Der Trainer der italienischen Nationalmannschaft, er hat schon vor einem halben Jahr bei der WM-Auslosung behauptet, dass in dieser schwersten aller Gruppen mit den ehemaligen Weltmeistern Uruguay, England und Italien natürlich Costa Rica der unangenehmste Gegner sei, „denn diese Mannschaft kennen wir alle nicht“.
Das war, wahrscheinlich, ein wenig kokett formuliert. Und ist doch so richtig. Am Dienstag gibt England in Belo Horizonte seine Abschiedsvorstellung. Gegen den souveränen Tabellenführer Costa Rica: Er hat in zwei Spielen vier Tore erzielt und nur eines gefangen – einen nicht ganz unumstrittenen Elfmeter. Doch er blieb eine Randnotiz beim 3:1-Sieg gegen Uruguay. Die kleinen Unbekannten waren die klar bessere Mannschaft. Fünf Tage später waren sie noch ein bisschen besser beim 1:0 über Italien, das nur deshalb so knapp ausfiel, weil der Schiedsrichter dem Außenseiter einen klaren Elfmeter vorenthielt.
Zwei Weltmeister werden ausscheiden in der, nun ja, Todesgruppe D. England ist schon raus, den zweiten Streichkandidaten spielen Italien und Uruguay aus. Den Italienern reicht im direkten Duell ein Unentschieden, aber in der Logik spricht einiges gegen sie. Wie ohnehin einiges gegen die Favoriten spricht bei dieser WM in Brasilien. Zu den ersten Heimreisenden gehören der Weltmeister Spanien und die Fußball-Erfinder aus England. Zu den ersten Qualifikanten für das Achtelfinale zählen die Zwerge Costa Rica und Chile.
Wenn das Establishment versagt und das Prekariat triumphiert, wird das für gewöhnlich als Qualitätsverlust gewertet. Als Indiz für Lustlosigkeit auf der einen Seite und Glück auf der anderen. Nichts davon trifft auf diese WM zu. Die Weltmächte England, Spanien und Italien fügten sich keineswegs lustlos in ihr Schicksal, so wie Chile und Costa Rica mitnichten unverdiente Hilfe aus dem Himmel in Anspruch nahmen. Gewonnen hat jeweils der Fußball, dieses Spiel, von dem Experten immer wieder gern behaupten, es könne nicht mehr neu erfunden werden. Das ist ein Irrtum, und die WM ist der beste Beweis dafür.
Chile hat gewiss eine gute Mannschaft, ihre Interpreten spielen fast alle in den großen Ligen Europas. Und dennoch unterliegen die Chilenen in der Summe ihrer individuellen Qualität mit Sicherheit den Spaniern, deren Hauptdarsteller in Madrid, Barcelona oder Chelsea spielen, den besten Mannschaften der Welt. „Wir sind nicht die Talentiertesten“, sagt der Mittelfeldspieler Marcelo Diaz. „Aber wir haben eine Qualität: Wir spielen mit dem Herz.“
Ahnungslose Spanier
Das klingt banal, denn welcher Fußballspieler ist nicht mit dem Herz dabei, wenn es vor Milliarden von Fernsehzuschauern um den größten Titel geht. Aber Herz ist nicht gleich Herz, und das Engagement im Kampf des Einzelnen ist nichts gegen das gemeinsame Eintreten für eine gemeinsame Sache. Wer die Chilenen gesehen hat, wie sie Fuß an Fuß 90 Minuten plus Nachspielzeit die arrivierten Spanier über den Platz hetzten, wie jeder sein Ich hergab für ein Wir – wer das gesehen hat, darf diese Kombination von technischer Begabung und taktischer Ausbildung durchaus als Komposition eines neuen Fußballstils interpretieren.
Im Umgang mit dem Ball sind Chilenen und Costa-Ricaner nicht so viel untalentierter als Spanier und Engländer. Das Establishment schöpfte seinen Vorteil bisher aus der taktischen Ausbildung und der hohen Anforderung des Ligabetriebs. Das große Fußball-ABC aber wird längst nicht mehr nur in den großen Ligen gelehrt, und die Motivation der Feiertage einer Weltmeisterschaft kann durchaus die Routine des gehobenen Alltages in der Primera Division oder der Serie A oder der Premier League übertreffen. Den entscheidenden Unterschied macht die Hingabe. Was Brasilien im Sommer 2014 erlebt, ist ein Comeback der Leidenschaft.
Spanien wusste nichts Gescheites anzustellen gegen die vogelwild angreifenden und verteidigenden Chilenen. Genauso erging es den Italienern gegen Costa Rica. Es war ja nicht so wie 1966 bei der italienischen Niederlage im WM-Spiel gegen Nordkorea, als die Kleinen ein Glückstor schossen und danach in Serie den Ball in Richtung Tribüne bolzten. Costa Rica war die gierigere Mannschaft und dadurch auch die bessere. Italien kam nie dazu, so etwas wie eine Aufholjagd zu inszenieren und besaß keine ernsthafte Chance zum Ausgleich.
Der Gastgeber als Gegner
Zwei Weltmeister sind schon raus, am Dienstag wird es den dritten treffen. Und es wäre keineswegs eine Überraschung, wenn Italien im Duell mit Uruguay daran glauben muss. Italien, der vierfache Weltmeister, dessen Verdienste weitaus schwerer wiegen als die des romantischsten und ersten aller Weltmeister. Dieser Hypothese liegen zunächst ganz praktische Gründe zugrunde. Italien hat schon zweimal im heißen und feuchten Norden gespielt und muss im dritten Spiel in Natal noch einmal dorthin. Gegen Costa Rica japsten die Italiener schon eine halbe Stunde vor Schluss nach Luft und waren nicht einmal ansatzweise fähig zu einem Schlussspurt.
Die Uruguayer haben zuletzt beim 2:1 über England im kühlen Sao Paulo gespielt und verfügen über den Luxus eines zusätzlichen Ruhetages, was Italiens Mittelfeldspieler Thiago Motta gleich zu einer Klage in Richtung Fifa inspirierte: „Ist das etwa gerecht?“ Als ob der Weltverband neben allerlei anderen Schandtaten den Spielplan schon vor der Auslosung gegen Italien manipuliert hätte. Den vielleicht entscheidenden Unterschied formulierte Oscar Washington Tabárez. „Meine Spieler lieben ihr Land“, sagt Uruguays Trainer, „und sie werden immer alles geben. So ist unser Fußball.“
Das entspricht exakt der Überzeugung der Chilenen. Sie werden am Montag wissen, gegen wen es im Achtelfinale geht. Wahrscheinlich gegen... Brasilien.