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Stressfaktor. Davie Selke (rechts) weiß, dass man dem Gegner nicht nur mit Toren auf den Wecker gehen kann.
© AFP

Hertha BSC: Die Nervensäge Davie Selke

Kaum ein Stürmer stresst den Gegner so wie Davie Selke – auch deshalb wird er für den Berliner Bundesligisten perspektivisch noch sehr wichtig werden.

Wer Davie Selke nicht kennt und ihn allein nach seinem Äußeren beurteilt, der wird vermutlich zu einer völlig falschen Einschätzung des Stürmers von Hertha BSC gelangen. Gerade Haltung, strenger Scheitel, zackiges Auftreten – Selke wirkt auf viele unnahbar, manche sagen sogar: arrogant. In Wirklichkeit ist der 23-Jährige ein sehr höflicher Zeitgenosse, wohlerzogen und äußerst kommunikativ. Zumindest solange man ihn nicht auf ein bestimmtes Thema anspricht. Dann wird Selke plötzlich einsilbig und sein Blick schneidend. Dieses Thema ist: Rasenballsport Leipzig.

„Dazu habe ich schon alles gesagt“, sagt Selke – wenn er überhaupt was sagt.

Zwei Jahre hat er für den Retortenklub aus Sachsen gespielt, respektive: am Ende eben nicht mehr gespielt. Die fehlende Wertschätzung hat an ihm genagt, dazu muss man sich nur das Spiel aus dem vergangenen Dezember anschauen, als Selke zum ersten Mal nach seinem Wechsel zu Hertha wieder auf seinen alten Arbeitgeber traf. Zwei Tore erzielte er beim 3:2-Sieg der Berliner in Leipzig. Wenn man Genugtuung irgendwie illustrieren müsste, sollte man ein Bild von Davie Selke aus eben jenem Spiel nehmen.

Selke wird sich wohl wieder gedulden müssen

An diesem Samstag (18.30 Uhr, live bei Sky) empfangen die Berliner die Leipziger zum Topspiel in der Fußball-Bundesliga. „Bestimmt wird er spielen“, sagt Herthas Trainer Pal Dardai über Selke. „Er ist fit, er könnte auch 90 Minuten marschieren.“ Die Chance, dass er von Anfang an spielen darf, ist trotzdem kleiner als die, dass er im Laufe der Partie eingewechselt wird. Dardai hat zwar vor einer Woche überlegt, Selke neben Vedad Ibisevic als zweiten Stürmer aufzubieten; aber da spielten die Berliner mit einer Dreier- beziehungsweise Fünferkette. Das hat Dardai für die Begegnung mit den Leipzigern schon ausgeschlossen.

Vermutlich also wird Selke wieder das tun müssen, was er augenscheinlich nicht besonders gut kann: sich gedulden. Dardai hat in der vergangenen Woche erzählt, dass Selke quasi jeden Tag bei ihm vorstellig werde und ihn frage: „Trainer, wann darf ich von Anfang an spielen?“ Unter der Woche, beim Pokalspiel gegen den Zweitligisten Darmstadt, war es endlich so weit. Hertha gewann recht souverän, die beiden Tore aber fielen erst, als Selke nicht mehr auf dem Feld stand.

Dass ihm nach seiner Verletzungspause die Spielpraxis fehlt, war ihm deutlich anzumerken. Einmal befand er sich in aussichtsreicher Position vor dem Tor, doch im letzten Moment spitzelte ihm ein gegnerischer Verteidiger den Ball vom Fuß. Nach einer guten Stunde sah sich Dardai genötigt, Selke auszuwechseln, weil der eigentlich nur noch durch Fouls auffiel. „Er war einen Tick übermotiviert, wollte zeigen, wie gut er ist“, sagt Dardai, der Selke daher am Donnerstag noch einmal zu einem kurzen Einzelgespräch gebten hat. Herthas Trainer ahnt wohl, dass Selke auch oder gerade gegen Leipzig Gefahr laufen würde zu überdrehen.

Es geht um eine gewisse Ausgewogenheit in seinem Spiel – weil die Hyperaktivität Schwäche und Stärke zugleich ist. Mit seiner Art vermag es Selke, seine Gegenspieler zu stressen wie kaum jemand sonst. So erzwang er vor einer Woche den Elfmeter, der Hertha in der Nachspielzeit noch das Unentschieden gegen den Tabellenführer Dortmund bescherte. Ein Scorerpunkt wurde Selke dafür gutgeschrieben. Es ist seine einzige Torbeteiligung in dieser Saison.

Dardai sagt, Selkes Moment komme noch

Seine aktuelle Lage ist vor allem der Tatsache geschuldet, dass er sich in der Vorbereitung schwer verletzt hat – ähnlich wie in der vergangenen Saison, als er unmittelbar nach seinem Wechsel zu Hertha erst einmal ausfiel. Sechseinhalb Wochen musste er diesmal pausieren. Seit seinem Comeback ist Selke in jedem Bundesligaspiel zum Einsatz gekommen, allerdings immer nur als Einwechselspieler, so dass er auf gerade mal 174 Spielminuten kommt. „Er trainiert gut. Mit der Einstellung und dem Willen bin ich zufrieden“, sagt Dardai.

So war es auch in der vorigen Saison, als Selke als Herausforderer startete – und am Ende die Nummer eins unter Herthas Stürmern war. Zum ersten Mal in seiner Karriere gelang ihm eine zweistellige Trefferzahl. 8,5 Millionen Euro hatten die Berliner für Selke an Leipzig zahlen müssen – so viel wir für keinen anderen Spieler davor und danach. Die Investition hat sich bezahlt gemacht. Für beide Seiten. „Fußballerisch habe ich hier einen großen Schritt gemacht“, sagt Selke. Anfangs war er ein reiner Strafraumstürmer und für Kombinationsfußball kaum zu gebrauchen. Doch gerade in dieser Disziplin hat sich Selke deutlich verbessert. „Irgendwann will ich sagen können: Ich decke alle Facetten ab, die das Spiel eines Stürmers ausmachen“, sagt er.

Bei Hertha bekommt Selke die Zeit, die er benötigt. Über insgesamt fünf Jahre läuft sein Vertrag „Er weiß, dass wir auf ihn setzen“, sagt Dardai. „Sein Moment kommt noch. Nach dem ersten Tor wird alles wieder wunderbar aussehen.“ Überhaupt ist Dardai zuversichtlich, „dass er Großes schaffen kann – nicht nur für uns, sondern irgendwann auch für Deutschland“. Stürmer seiner Bauart, groß, präsent, dynamisch, werden im deutschen Fußball gerade verzweifelt gesucht. Früher oder später wird der Bundestrainer an Selke nicht vorbeikommen. Er muss jetzt nur noch bei Hertha regelmäßig spielen.

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