Kolumne: So läuft es: Die Einsamkeit der Bestzeitenjunkies
Immer besser, immer schneller - ist nicht alles. Unser Kolumnist hatte beschlossen, den Hamburg-Marathon einfach zu genießen. Die Stimmung aufzusaugen, locker durchzujoggen. Doch das war nicht so einfach.
Wenn man Läufer ist und Marathon läuft, dann weiß man: Ein Marathon läuft nie gleich ab. Selbst wenn man mehrmals in derselben Stadt gelaufen ist. So war es vergangenen Sonntag in Hamburg. Neben Berlin ist er für mich der schönste Marathon Europas. Die Strecke ist schnell, die Menschen waren stets gut zu mir, 800.000 Zuschauer begleiten die Läufer. Feiern, fiebern mit, unterstützen in schweren Minuten. Immer dann, wenn man es wirklich braucht. Ich wusste, dass dieses Jahr viele Freunde, Bekannte und auch Profiläufer eine klare Ansage gemacht hatten: In Hamburg sollten die persönlichen Bestzeiten fallen, es sollte geballert werden. Überall in den sozialen Netzwerken erhöhte sich der Druck. Die Fans feuerten an, peitschten die Bestzeitenjunkies an.
Vor dem Start in Hamburg lag ein Duft aus Adrenalin, Testosteron und Aufwärmschweiß in der Luft. Eine wahre Druckwelle baute sich auf. Und ich mittendrin. Der, der vier Wochen zuvor in Südafrika 56 Kilometer gelaufen war. Der beschlossen hatte, den Hamburg-Marathon einfach zu genießen. Die Stimmung aufzusaugen, Kinderhände abzuklatschen, locker durchzujoggen. 30 Minuten vor dem Start schaute ich auf meine Schuhe. Ich hatte meinen Chip im Hotel vergessen der zwingend nötig gewesen wäre, um die Zeit offiziell messen zu lassen.
Ich habe kurz überlegt, einfach ohne Chip zu laufen - nur für mich
Vor Jahren wäre ich komplett in Panik geraten, denn das Messen meines Bestzeitenversuchs wäre in Gefahr gewesen. Diesmal war in mir Ruhe, nichts als Ruhe. Inmitten des Mixes aus Adrenalin, Testosteron und Aufwärmschweiß überlegte ich kurz, einfach ohne Chip zu laufen. Nur für mich. Der Gedanke fühlte sich so gut an. Und doch besorgte ich mir einen Ersatzchip. Eines Tages laufe ich ohne. Ganz sicher. Vielleicht. Mal sehen.
Ich lief mit dem Pacemaker, der exakt 3 Stunden 15 lief. Ich lief mit ihm bis Kilometer 34. Dann ließ ich ihn ziehen, um mein eigenes Tagestempo zu laufen. Ohne Druck. Und es fühlte sich richtig an. Bis dahin, und danach. Im Ziel traf ich einen Bekannten. Am Boden zerstört. Er hatte dem eigenen Druck nicht standgehalten. Der Druck hatte ihn gebrochen. Die persönliche Bestzeit in weiter Ferne. Ich schaute in ein Gesicht, das gezeichnet war. Trauer, Wut, Schmerz, Verlust, kraftlos, leer. Ich umarmte ihn. Und konnte doch nicht helfen.
Hinterm Ziel und in den sozialen Netzwerken verstummte der Jubel. Viele hatten ihre Bestzeit nicht verbessert. Der Druck! Mit meiner Medaille um den Hals und sehr glücklich über meine Zeit, verließ ich den Marathon. Und schlenderte die Straße entlang. Ein Läuferehepaar, so um die 60 Jahre alt, kam mir entgegen. Sie schaute ihren Mann an und sagte ihm: „Warte, ich muss sie wenigstens anfassen.“ Sie stoppte mich. „Glückwunsch! Sie haben es geschafft. Ich musste bei Kilometer 20 abbrechen. Zu viel Druck. Ich bin verletzt“, flüsterte sie. „Darf ich Ihre Medaille einmal anfassen? Ich muss wenigstens wissen, wie sie sich anfühlt.“
Ich nahm die Medaille vom Hals und legte sie sachte in ihre Hand. „Nehmen sie sie, und hüten sie sie gut. Ich möchte sie ihnen schenken. Denn auch sie haben mir ein Geschenk gemacht. Sie haben mir einmal mehr gezeigt: Die einzige Ursache für Erfolg oder Niederlage liegt in uns selbst.“ So läuft es.
- Mike Kleiß leitet eine Kommunikations- und Markenagentur in Köln und schreibt hier an jedem Donnerstag übers Laufen.
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