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Allein unter Deutschen. Wolfgang Rolff, Karl Heinz Förster, Felix Magath und Klaus Allofs umrahmen Michel Platini (in blau).
© Imago/Simon

WM-Halbfinale 1986, gesehen im Tiergarten: Deutschland schlägt Frankreich - im Tempodrom

Als es noch nicht "Public Viewing" hieß, strömten 1986 trotzdem die Massen ins Tempodrom Tiergarten, um das WM-Halbfinale gegen Frankreich zu sehen. Unser Autor erinnert sich.

Seit Tagen hatte mir Lou, Mitbewohner in meiner Weddinger Mini-WG in der Müllerstraße, in den Ohren gelegen. WM-Gucken im Tempodrom, das sei nun voll das Ding. Kein Toten-Hosen-Konzert, dafür schnöde Fußball-Massenbelustigung vorm Fernseher? Nein, das sei politisch völlig unbedenklich. Nach dem Viertelfinale war er völlig begeistert von der „Mordsstimmung“ in dem riesigen grünen Zirkuszelt im Tiergarten. „Toni, Toni, Toni“ – hätten hunderte, ja tausende von Menschen begeistert gerufen, nachdem dieser Torwart aus Köln also nach 120 Minuten torlosen WM-Viertelfinalkicks Mexiko, den Gastgeber, im Elfmeterschießen geschlagen hatte. Zwei von Dreien parierte der Toni, der erst später als Buchautor national in Ungnade fallen sollte (Zurecht, wer Lust hat auf Zitate aus „Anpfiff“ - hier gibt es sie). Aber damals war Toni noch topp. „Und die Stimmung im Tempodrom erstmal, wie im Stadion“, sagte Lou. „Und besser. Der Weg zum Bier ist nicht so weit. Musste Dir reinziehen.“

Ich zögerte vier Tage lang. Erst einmal: Deutschland-Gejohle war damals reichlich unsexy. Und dann lag das Tempodrom doch so blöd. Bis Lehrter Bahnhof mit der S-Bahn, dann längs der Entlastungsstraße der Fußmarsch. Und was hatten wir in Berlin (das „West“ vergaßen wir gern) schon damit am Hut, spielte kein Berliner mit, Westdeutschland war weit weg. Deutschland war auf alle Zeiten ein getrenntes Land, Berlin für immer eine geteilte Stadt. Das hatte ich vor ein paar Tagen erst ein paar irischen Freunden so erklärt: „Es ist wahrscheinlicher, dass die Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland fällt als das so was in Deutschland passiert“). Und schließlich: Das Drama von La Defense konnten die deutschen Fußballer nicht toppen, 1982 hatte ich als Teenager den legendären Elfmeterschieß-Halbfinalsieg gegen Frankreich allein unter Franzosen gesehen. Und diesmal also sollte ich als Student mit über 1000 Deutschen im Tempodrom eine Niederlage gegen Frankreich sehen. Das „Trauma von Tiergarten“ oder so?

Mit einem „Teamchef“ konnte man doch eigentlich nicht gewinnen

Denn: Es war ja klar, diesmal in Guadalajara würde Frankreich siegen. Nach dem Betriebsunfall, dem Elfer-Drama von 1982, hatten die Franzosen alles gewonnen. Sie wurden 1984 Europameister im eigenen Land, der Michel Platini war der absolute Weltstar des Fußballs. Bats, Tigana, Giresse – das waren die großen Namen. Und die Deutschen mit Ditmar Jakos, Norbert Eder und Wolfgang Rolff und einem Trainer, der nicht einmal Trainer war, sondern nur Teamchef? Selbst Lou hatte noch gesagt, auf was für einem geistigen Level „dieser Teamchef“ unterwegs sei.

So sah das aus. Gründerin Irene Mössinger in den Achtzigerjahren vor "ihrem" Tempodrom.
So sah das aus. Gründerin Irene Mössinger in den Achtzigerjahren vor "ihrem" Tempodrom.
© Stefan Nowak

Egal, Mittwochabend, 25. Juni 1986, so gegen halb sieben, sagt Lou: „Kommst du mit?“ Ich: „Ich weiß nicht. Vielleicht später. Wir sehen uns.“ Ich rang mit mir. Irgendwann machte ich mich dann doch auf den Weg. So weit war das von der Müllerstraße ja doch nicht, ich lief – glaube ich – über die Turmstraße hin (oder bin ich vorher die Rathenower runter). Ich kam an, zu spät, ging durch das Eingangstor und sah, dass es rappelvoll sein musste im Zelt. Kannte ich sonst ja nur von Konzerten. Das Wort „Public Viewing“ war noch nicht erfunden, es war zwar normal, in Kneipen zu schauen – aber mit so viel Menschen, das war eher ungewöhnlich. Auf dem Platz rund um das Tempodrom-Zelt ging es. War zwar staubig wie immer, kann sich heute auch keiner mehr vorstellen im Tempodrom am Anhalter Bahnhof, aber sonst war alles gut. Bier gab es wie immer im wackeligen weißen Plastikbecher.

Bier gekauft, gewappnet rein ins Getümmel. Nicht auf den Rang, sondern in den Innenraum nach vorne. Das konnte ich konzerterprobt, ja sogar – die älteren Leser werden sich erinnern – mit Pogo-Erfahrung. Kaum drin, sehe ich auf der – nach heutigen Maßstäben – schummrigen Leinwand wie Andi Brehme das 1:0 schießt. Ein Wunder, die Menschen jubelten. Harmlos eher. Große Sprechchöre gab es noch nicht. Auch keine Deutschlandfähnchen, die wurden erst 1990 bei dem WM-Sieg nach Mauerfall und kurz vor Wiedervereinigung eingeführt.

Die Franzosen waren im Tempodrom viel schwächer als vier Jahre zuvor in La Defense

Trotz der frühen Führung war es ein komisches Spiel, das Halbfinale von 1986. Die Franzosen, an sich gefühlt doch klar besser, waren durchweg seltsam gehemmt. Sie wirkten im Tempodrom viel mutloser als vier Jahre davor beim Drama im Pariser Stadtteil La Defense. Es passiert echt wenig, bis der eingewechselte Völler (für Rummenigge) dann das Ding mit dem Tor zum 2:0 kurz vor Schluss besiegelt.

Ein Jahr später im Olympiastadion bin es dann übrigens ich, der mit „Rudi, Rudi“-Rufen Völlers frühen Doppelpack gegen Frankreich nicht nur versucht zu feiern, sondern als Sprechchor zu etablieren. Es gelang mir ansatzweise. Das Stadion war nicht mal halbvoll, die westdeutsche Nationalmannschaft in Berlin (West) damals nicht so der Knaller. 31.000 Zuschauer nur. Sollte sich später übrigens ändern. Für Montag ist ja für den Fall der Fälle auch schon wieder was geplant.

Zurück zum Tiergarten. Ich fand’s gut. Lou sehe ich in der Masse erst nach dem Spiel. Ein paar Tage später kommen wir wieder ins Tempodrom. Zum Finale gegen Argentinien. Das geht dann allerdings nicht so gut aus wie das Frankreich-Spiel und Maradona geht uns allen mächtig auf den Keks. Aber dafür blieb mir der Gedanke an den zweiten WM-Halbfinalsieg gegen Frankreich. Nach dem „Drama von La Defense“ gab es also den „kleinen Traum im Tiergarten“.   

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