Marcell Jansen und die Nationalelf: Der Wiederbeginn einer wunderbaren Freundschaft
Marcell Jansen hatte bereits mehr als zweieinhalb Jahre kein Länderspiel bestritten. Seit dem Qualifikationsspiel gegen Kasachstan im März entwickelt sich der 28-Jährige nun wieder zu einer festen Größe in der Mannschaft von Bundestrainer Joachim Löw.
Neulich hat Oliver Bierhoff ein wenig von früher erzählt, aus den Urzeiten des Fußballs, als der Rechtsaußen noch die 7 trug, der Linksaußen die 11 und der Mittelstürmer die 9. Bierhoff, der Manager der Nationalmannschaft, blickte kurz zu Marcell Jansen. „Ich weiß nicht, ob du auch so angefangen hast“, sagte er. Und lachte. Marcell Jansen ist vorige Woche 28 geworden.
Früher hätte man gesagt: Jansen, der Linksverteidiger vom Hamburger SV, ist jetzt im besten Fußballeralter. Mit Ende 20 lässt die körperliche Fitness noch nicht zwingend nach, dafür kommt der Faktor Erfahrung hinzu. Aber ob das immer noch gilt, jetzt, da immer mehr und immer jüngere Talente in die Nationalelf strömen, weiß niemand so recht. „Für mich ist es das beste Alter“, sagt Jansen. „Mit Anfang 20 habe ich mich viel älter gefühlt, viel müder und gar nicht so fit wie jetzt.“
Dieses Gefühl ist durch den Bundestrainer inzwischen sogar notariell beglaubigt worden. Im März hat Joachim Löw Jansen zurück in die Rasselbande namens Nationalmannschaft geholt. Im Qualifikationsspiel gegen Kasachstan wurde er kurz vor Schluss eingewechselt. Es war Jansens erstes Länderspiel nach zwei Jahren, sechs Monaten und dreiundzwanzig Tagen Pause. Was damals noch wie eine einmalige Sache aussah, stellt sich mehr und mehr als Beginn einer stabilen Beziehung heraus. Seit seinem Comeback ist Jansen in jedem Länderspiel zum Einsatz gekommen. Auch gegen Italien und England wurde er wieder nominiert.
Wer einmal vom Schirm des Bundestrainers verschwunden ist, taucht in der Regel nicht mehr auf
Mit seiner Biografie ist Jansen ein spezieller Fall im Kosmos Nationalmannschaft. Wer einmal vom Schirm des Bundestrainers verschwunden ist, taucht in der Regel nicht mehr auf: Marko Marin, Piotr Trochowski, Serdar Tasci, Simon Rolfes – alle haben bei Löw eine mehr oder minder wichtige Rolle gespielt, sind urplötzlich verschwunden und nie zurückgekehrt. Auch Jansen war lange weg. Mesut Özil, Thomas Müller, Sami Khedira, alle deutlich jünger, haben längst mehr Länderspiele als er. Und seine Altersgenossen, die Endzwanziger Lahm, Schweinsteiger, Podolski, haben inzwischen die Hundertermarke geknackt. Marcell Jansen steht bei 42 Länderspielen. Wann spürt man eigentlich, dass man raus ist? „Was heißt raus?“, fragt Jansen. „Ich habe nie gezweifelt, es wieder schaffen zu können.“
Man tritt Jansen sicher nicht zu nahe, wenn man seine Beziehung zur Nationalmannschaft als eine besondere bezeichnet. Sie ist so etwas wie die Konstante in seinem sportlichen Leben. Seitdem er vor zehn Jahren Profi wurde, hat er bei Borussia Mönchengladbach, Bayern München und dem HSV 16 Trainer gehabt. In der Nationalmannschaft waren es zwei: Jürgen Klinsmann und Joachim Löw. „Die Nationalmannschaft ist wie ein zweiter Verein für mich“, sagt Jansen.
Ganze neun Monate hat Jansen 2005 nach seinem Bundesligadebüt gebraucht, bis er mit 19 erstmals zur Nationalelf geladen wurde. Die große Welt des Fußballs eroberte er damals im Sauseschritt. Bei der WM 2006 war Jansen der jüngste Spieler im deutschen Kader, 2008 bei der EM immer noch. Der Außenverteidiger passte perfekt ins Beuteschema von Jürgen Klinsmann: Er interpretierte seine Rolle sehr offensiv, enterte dynamisch den freien Raum und wirkte in seinem ganzen Auftreten erfrischend forsch.
Joachim Löw hat Jansens Weg von Beginn an begleitet, erst als Co-Trainer, seit 2006 als Chef. „Ich habe bei ihm sehr viel gelernt, gerade die Interpretation des Außenverteidigers“, sagt Jansen. Während im Klub jeder neue Trainer neue Ideen einbrachte, wusste Jansen in der Nationalelf immer, „worauf geachtet wird, wo man sich weiterentwickeln muss“.
Zwischenzeitlich schien seine Entwicklung ernsthaft ins Stocken geraten zu sein. Vor zwei Jahren hat Löw bei Jansen sogar öffentlich eine Entscheidung angemahnt, ob er im Sommer lieber vier Wochen Urlaub machen oder etwas für seine Karriere tun wolle. Der Satz hat dem Hamburger den Ruf eingebracht, zu wenig professionell mit seinem Körper umgegangen zu sein. Jansen hält diese Deutung für Blödsinn. Er ist sicher, dass Löw seine Aussage nicht auf die Vergangenheit bezogen haben kann: „Er weiß ja, dass ich ein sehr fleißiger Spieler bin.“
Fast jeder Körperteil von Jansen war bereits von einer Verletzung betroffen
Dass sich Verletzungen durch seine Karriere ziehen, fast jeder Körperteil (Hüfte, Zeh, Syndesmoseband, Schulter, Achillessehne) schon betroffen war, das führt Jansen vor allem auf seine risikoreiche Spielweise zurück: „Du kannst den ganzen Tag nur Möhrchen und Tomaten essen – wenn du dich verletzt, dann verletzt du dich.“ Jansen spricht daher lieber von Unfällen als Verletzungen, eine Folge mangelnder Sorgfalt kann er darin nicht erkennen. Anders wäre es, wenn er dauernd von Muskelfaserrissen geplagt worden wäre. Jansen erinnert sich an keinen einzigen.
Sein Problem – so sieht Jansen es heute – war eher, dass er zu viel wollte. Unmittelbar vor der WM 2010 war er zwei Monate verletzt, im Verein hatte er nur Lauftraining bestritten. Trotzdem wurde er nominiert. Jansen kämpfte sich heran, kam zu vier Einsätzen – und fiel nach der Weltmeisterschaft in ein tiefes Loch. „Das Turnier hat mich weit zurückgeworfen. Das war wie ein Verbrennen“, sagt er. „Aber daraus habe ich viel gelernt.“ Als Jansen bei der EM 2012 erstmals bei einem großen Turnier fehlte, hielt sich seine Enttäuschung in Grenzen. Die Erholung, vor allem mental, würde ihm perspektivisch nur gut tun. Ebenso wichtig war, dass er beim HSV vom Mittelfeld wieder in die Viererkette rückte. „Das ist zu hundert Prozent meine Position“, sagt er. „Ab dem Tag wusste ich: Jetzt geht’s weiter.“ Zumal die Konkurrenz auf dieser Position traditionell dünn ist. Außer Marcel Schmelzer aus Dortmund gibt es niemanden, den Jansen ernsthaft fürchten muss.
Marcell Jansen, der lange weg war, besitzt jetzt sogar wieder eine realistische Chance, 2014 an der Weltmeisterschaft in Brasilien teilzunehmen. Es wäre seine dritte WM-Endrunde. „Schnell hochkommen ist einfach“, sagt Jansen, „aber auf dem Level zu bleiben, das ist die Kunst.“ Wieder zurückzukommen erst recht.
Stefan Hermanns