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Gino Bartali gewann den Giro d'Italia gleich dreimal - hier sein Sieg 1936.
© imago/Sirotti

Italienische Radsportlegende: Der stille Held Gino Bartali

Gino Bartali rettete während des Zweiten Weltkriegs Hunderte Juden. Aus Dank startet der Giro d'Italia 2018 in Israel. Die Geschichte eines Champions – auf und neben dem Rad.

Einhundertachtzig Kilometer. Hin und zurück. An einem Tag. Gino Bartali kannte viele Strecken in- und auswendig. Er gewann dreimal den Giro d'Italia, zweimal die Tour de France und zahlreiche Eintagesrennen. Diese 180 Kilometer zwischen Florenz und Assisi waren aber die wichtigste Etappe für Gino Bartali. Er fuhr sie zwischen 1943 und 1945 immer wieder, vorbei an Kontrollposten, Soldaten, zerstörten Häusern. In seinem Sattelrohr schmuggelte er Fotos und gefälschte Dokumente. Bis zu 800 Juden rettete er so vor der Deportation und dem Tod.

Diese humanitäre Großleistung würdigen die Organisatoren des Giro d’Italia bei der diesjährigen Italien-Rundfahrt. Am 4. Mai startet der Giro erstmals in seiner 101-jährigen Geschichte außerhalb Europas. Die erste Etappe findet in Jerusalem statt und ist Bartali gewidmet. Danach fährt das Feld zwei weitere Tage durch Israel, bevor es auf Sizilien weitergeht. Im vergangenen Jahr fuhr ein israelisches Team im Rahmen des Giros genau jene Strecke zwischen Florenz und Assisi, die Bartali einst als Kurier des Widerstands so viele Male zurücklegte.

Bartali hätte dieser Trubel um seine Person wohl eher nicht gefallen. Er hat über seine Heldentaten ja nicht einmal geredet. Nur mit einem: seinem Sohn Andrea. Der musste ihm versprechen, niemandem davon zu erzählen, zumindest zu seinen Lebzeiten. Bartali wollte nicht, dass die Geschichte bekannt wird. „Gutes tut man, aber man spricht nicht darüber“, sagte er seinem Sohn immer wieder. Und er lebte bis zu seinem Tod durch einen Herzinfarkt im Mai 2000 nach diesem Motto.

1943 hatte die Wehrmacht große Teile Italiens besetzt. Benito Mussolini rief mit deutscher Unterstützung im Norden die Republik von Salò aus – und Gino Bartali verließ fast jeden Tag mit seinem Fahrrad das Haus. Seiner Frau sagte er, er gehe trainieren. Dabei fuhr er von Florenz nach Assisi. Es war eine grausame Zeit in der Toskana. Die Straßen waren verlassen, die Menschen hatten Angst. Täglich wurden Juden deportiert. Wer sich widersetzte, wurde auf offener Straße erschossen. An Radsport war zu dieser Zeit eigentlich nicht zu denken, doch Bartali fuhr Tag für Tag über die Landstraßen. Der Zweite Weltkrieg beraubte ihn der besten Jahre seiner Karriere, eine verlorene Zeit war es aber keineswegs.

Gino Bartali starb 2000 an einem Herzinfarkt.
Gino Bartali starb 2000 an einem Herzinfarkt.
© picture-alliance / dpa

Bartali war streng gläubiger Katholik

Alles begann im Winter 1943. Am späten Abend bekam Bartali einen Anruf. Als berühmter Radfahrer hatte er einige Privilegien. Ein Telefon gehörte dazu. Am Apparat war Elia Dalla Costa. Bartali kannte den florentinischen Kardinal gut. Bartali war ein streng gläubiger Katholik und Dalla Costa hatte ihn und seine Frau Adriana getraut. Der Anruf war aber ungewöhnlich. Zu spät, zu mysteriös. Das Telefon des Kardinals wurde überwacht, deshalb bat er Bartali nur, ihn zu besuchen. Der schwang sich auf sein Rad und fuhr zur Piazza San Giovanni ins Stadtzentrum. Hier steht der beeindruckende Dom von Florenz, Santa Maria del Fiore, mit der monumentalen Kuppel und Giottos berühmtem Glockenturm.

Für die Sehenswürdigkeiten hatte Bartali an diesem Abend aber keinen Blick. Er betrat die Amtsräume des Kardinals und befand sich plötzlich mittendrin im katholischen Widerstand. Er war zwar kein politischer Mensch, sah es aber als seine Pflicht als guter Christ an, Menschen in Not zu helfen. „Mein Vater hat mir einmal gesagt: Ich bekämpfe den Krieg, indem ich Menschen helfe. Ob sie Juden, Muslime oder Anhänger anderer Religionen sind, ist mir egal. Für mich zählt das Leben“, erinnerte sich der im Juni 2017 verstorbene Andrea Bartali in einem Interview mit dem italienischen öffentlich-rechtlichen Sender Rai.

Dalla Costa bat Gino Bartali, wichtige Dokumente zwischen Florenz und Assisi zu transportieren. Das war zu jener Zeit extrem riskant. Überall patrouillierten Soldaten, jeder Reisende machte sich verdächtig. Nicht so Bartali. In Italien kannte den berühmten Sportler jedes Kind. Der Krieg schien sich langsam dem Ende zuzuneigen, warum sollte er mit seinem Fahrrad da nicht trainieren?

Mehrmals wurde auf ihn geschossen

In Assisi, der Stadt des heiligen Franz, versteckten die Franziskanermönche zahlreiche Juden. Dort war es noch sicherer als in Florenz. Damit die etwa 5000 in der Toskana versteckten Juden Richtung Süden fliehen konnten, brauchten sie jedoch gefälschte Dokumente und hier kam Bartali ins Spiel. Immer wieder fuhr er nach Assisi und schmuggelte Fotos der Untergetauchten. Er rollte sie zusammen, nahm den Sattel seines Rennrads ab und versteckte sie im Sattelrohr. Dann stieg er auf sein Rad und fuhr 180 Kilometer nach Assisi. Hier fertigten die Franziskaner mit- hilfe der Fotos neue Ausweise an. Aus Juden wurden Christen. Bartali rollte auch diese Dokumente zusammen, versteckte sie und fuhr zurück nach Florenz. Das tat er immer wieder. Monat für Monat bis zum Kriegsende.

Nebenbei kundschaftete er auch mögliche Fluchtrouten aus. Wo befindet sich die Wehrmacht, gibt es Kontrollposten? Oft wurde es trotz seiner Berühmtheit brenzlig. Einmal hielt ihn ein Soldat an und wollte das Fahrrad inspizieren. Bartali redete so lange auf ihn ein und bat ihn, keine Teile abzumontieren, da die Justierung bei einem Rennrad sehr lange dauere, bis dieser ihn fahren ließ. Mehrmals wurde in seine Richtung geschossen, und er konnte sich nur durch Sprünge in den Straßengraben retten. Eines Tages landete er dabei in der Gülle. „Er hat so doll gestunken, dass meine Mutter ihn nicht ins Haus gelassen hat und er sich erst draußen ausziehen und waschen musste“, sagte Andrea Bartali. Der damals noch kleine Sohn erfuhr davon nichts. Zwar war Gino manchmal tagelang weg, aber selbst seiner Frau offenbarte er den wahren Grund nicht. Je weniger Leute davon wussten, desto besser. Bartali hielt dicht.

„Er ist wahrscheinlich der Grund, dass ich noch am Leben bin.“

Gino Bartali gewann den Giro d'Italia gleich dreimal - hier sein Sieg 1936.
Gino Bartali gewann den Giro d'Italia gleich dreimal - hier sein Sieg 1936.
© imago/Sirotti

Auch als die Bartalis in ihrem Keller eine Familie versteckten, weihte er seine Frau nicht vollends ein. Dass es sich um Juden handelte und sie sich damit einer großen Gefahr aussetzten, erzählte er nicht. Die Goldenbergs waren Bekannte von Bartalis Schwager. Als die Wehrmacht nach dem Einmarsch Jagd auf Juden machte, mussten unzählige Familien in den Untergrund. Giorgio, der Sohn der Goldenbergs, kam erst ins Kloster und gab sich dort als Christ aus. Später holten ihn die Eltern in den Keller der Bartalis, wo sich die Familie etwa ein Jahr bis zum Kriegsende versteckte. „Bartali kam selten, um Essen zu bringen, oder seine Frau kam zu uns. Daran erinnere ich mich, ich war ein Kind von neun Jahren. Sieben, acht Mal, zehn Mal insgesamt kam er“, sagte Giorgio Goldenberg, der nach dem Krieg nach Israel auswanderte und den hebräischen Namen Shlomo Pas annahm, dem Deutschlandfunk 2012. Ohne Bartali hätten sie wohl nicht überlebt, vermutet Pas. „Er ist wahrscheinlich der Grund, dass ich noch am Leben bin.“

Die Geschichte von ihm und dem Radsportidol hat Pas seitdem mehrfach erzählt. Dennoch hat es lange gedauert, bis Bartali für seine Taten posthum geehrt wurde. Die Verantwortlichen des Yad Vashem, der offiziellen Holocaust-Gedenkstätte in Jerusalem, taten sich jahrelang schwer mit Bartali. Mehr als 25.000 Nicht-Juden wurden seit 1948 zu „Gerechten unter den Völkern“ erklärt, darunter Oskar Schindler. Die Ehrung hat jedoch klar definierte Anforderungen – und diese sind nicht so leicht zu erfüllen. Es reicht nicht nur, Mitglied im Widerstand gewesen zu sein. In Frage kommt nur, wer ein großes Risiko eingegangen ist und konkret an Rettungsaktionen beteiligt war. Zudem muss alles zuverlässig belegt sein.

2013 wurde Bartali "Gerechter unter den Völkern"

Im Falle von Bartali war lange die Frage, ob der Keller ihm selbst gehört hat. „Ich weiß nicht genau, ob Bartali selbst der Besitzer des Kellers war oder sein Schwager. Ganz sicher einer von den beiden. Aber warum ist das wichtig? Wichtig war, dass er mich und meine Familie in diesen Keller brachte und unser Leben rettete. Und höchstwahrscheinlich war seine gesamte Familie in großer Gefahr“, sagte Pas.

2013 war Yad Vashem endlich überzeugt. Im Beisein von Bartalis Frau und seinen Kindern wurde er in Jerusalem zum „Gerechten unter den Völkern“ ernannt – einen Monat, nachdem Dalla Costa diese Ehre posthum zuteil wurde. „Gino Bartali, ein frommer Katholik, war Teil eines jüdisch-christlichen Netzwerks, das hunderte Juden gerettet hat“, hieß es in der Mitteilung des Yad Vashem. Schon 2005 wurde Bartalis Frau vom damaligen italienischen Staatspräsidenten Carlo Azeglio Ciampi stellvertretend die goldene Ehrenmedaille verliehen.

Ob Bartali selbst dies alles gefallen hätte? Er stand nicht gerne im Mittelpunkt, war „kein Mann großer Worte“, wie seine Enkelin Lisa in ihrem Blog „Biciclettami“ schreibt. Bartalis Herkunft prägte ihn tief. Als Bauernsohn lebte der Mann mit der markanten Nase trotz aller späteren Erfolge ein einfaches Leben. Familie, Religion, Radsport – darum ging es Bartali. Alleine auf dem Fahrrad fühlte er sich am wohlsten. Vielen Kollegen war der stille Einzelgänger suspekt. Bartali war wortkarg, asketisch. Vor den Rennen trank er stets einen Espresso und rauchte eine Zigarette, um den Kreislauf in Gang zu bringen. Es war ein anderer Radsport, damals in den dreißiger, vierziger und fünfziger Jahren. Rauer, ursprünglicher, gefährlicher. Aber auch aufrichtiger. Ehre spielte für die Fahrer eine große Rolle.

In Italien gab es nur Bartalisti oder Coppisti

1940, Bartali hatte den Giro schon zweimal gewonnen, stellte ihm sein Team den jungen und noch unbekannten Fausto Coppi zur Seite. Nachdem Bartali aufgrund eines Sturzes keine Chance mehr auf den Gesamtsieg hatte, wurde Coppi zum Kapitän ernannt. Ohne jegliche Eitelkeiten stellte sich Bartali in dessen Dienst und führte ihn die Alpen hoch. Als der völlig erschöpfte Coppi aufgeben wollte, fuhr Bartali einige Meter zu seinem Kollegen zurück und brüllte ihn an: „Coppi, du bist nur ein Wasserträger! Nur ein Wasserträger!“ Coppi fuhr weiter und gewann den ersten von fünf Giros.

Italiens Radsportlandschaft spaltete sich in der Folge in Coppisti und Bartalisti. Die Fahrer selbst wollten von einer erbitterten Rivalität aber nichts wissen. Sie trieben sich gegenseitig zu Höchstleistungen an, ließen es dabei aber nie an Respekt mangeln. Ausdruck dessen ist ein Foto von der Tour de France 1952, wo Bartali Coppi eine Wasserflasche reicht. Es ist eines der bekanntesten Fotos der Radsportgeschichte.

Auch Jahrzehnte später ist Bartali in Italien unvergessen. 1979 widmete ihm der legendäre Musiker Paolo Conte ein Lied, das bis heute immer wieder zu hören ist. Darin singt Conte über einen Tag in den Bergen, als Zuschauer eines Radrennens: „Orange geht dieser Tag unter und füllt sich mit undeutlichen Erinnerungen. Ich bleibe gerne an dieser Landstraße, so voller Staub. Wenn du gehen willst, geh. Ich warte hier auf Bartali.“

Julian Graeber

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