Brasilien gegen Deutschland in Berlin: Der Schatten des 1:7
Das Halbfinal-Trauma bei der Heim-WM stand sinnbildlich für den Zustand Brasiliens. Das Land ist tief gespalten - nur der Fußball kann es noch einen.
Am Freitag leuchtete die Schönheit kurz durch den Moskauer Winter. Sie erhellte in blauem Glanz den Dauerregen, der den Schneeregen abgelöst hatte, beides nicht gerade die besten Freunde der Schönheit, wie sie daheim in Rio oder Sao Paulo empfunden wird. Sie hat sich dann auch eine Dreiviertelstunde lang bitten lassen, eine erste Halbzeit, in der Brasiliens Fußball noch unter der Kälte und Feuchtigkeit litt.
Im Luschniki-Stadion, dem Finalort der bevorstehenden Weltmeisterschaft, durften die gastgebenden Russen ein bisschen mitspielen. Dann aber machten die ganz in Blau gekleideten Brasilianer Ernst und drei Tore in zwölf Minuten. 3:0 gewannen sie das Testspiel gegen Russland, es war ein schöner Start in das WM-Jahr und, wichtiger noch: Ein angemessenes Vorspiel für den Augenblick des Wiedersehens. Für das Rencontre am Dienstag in Berlin, das erste Duell beider Nationen seit dem 8. Juli, dem dunkelsten Tag in der Geschichte eines Landes, das nie einen größeren Krieg erlitten hat und dem der Fußball alles bedeutet.
Mit dem WM-Aus wuchsen Korruption und Rezession
Das 1:7 im Halbfinale der Weltmeisterschaft gegen Deutschland ist als nationales Unglück in die Geschichte des Landes eingegangen. Wann immer seitdem etwas schiefläuft, sagt man zwischen Fortaleza und Florianopolis: „Outro 7 a 1“ (Wieder ein 7 zu 1). Oder: „Mais um gol da Alemanha“ (Noch ein Tor für Deutschland). Viele Brasilianer sehen in der desaströsen Halbfinalniederlage ein Spiegelbild für den Zustand ihrer von Korruption zerfressenen Nation. Fast zeitgleich glitt Brasilien in die wirtschaftliche Rezession und eine politische Krise ab, die schließlich im fragwürdigen Sturz der demokratisch gewählten Präsidentin Dilma Rousseff mündete.
Seit Samstag bereitet sich die Seleção Brasileira in der Alten Försterei, dem Stadion des 1. FC Union, auf das vor, was am Dienstag im Olympiastadion folgen wird. Politik und Wirtschaft lassen die Nation immer noch verzweifeln. Staatschef Michel Temer ist so unbeliebt wie kein anderer Präsident in der brasilianischen Geschichte, sein Vorvorgänger Lula da Silva ist im vergangenen Jahr wegen Bestechlichkeit und Geldwäsche zu neun Jahren Gefängnis verurteilt worden. Der Fußball aber verheißt Besserung.
"Jetzt müssen wir mit dem 1:7 leben"
Nicht so sehr wegen des leichten und beschwingten 3:0 am Freitag in Moskau. Die international nur noch drittklassigen Russen sind nicht der Maßstab, an dem sich eine Fußball-Nation wie Brasilien misst. Der Maßstab heißt Deutschland, und die Brasilianer sind froh, dass sie ihn mal wieder zu Rate ziehen dürfen. Zum einen, um der Welt nach der souverän absolvierten Qualifikation für die WM 2018 auf der Bühne des Weltmeisters zeigen zu dürfen, dass sie wieder da sind. Zum anderen, weil endlich mal andere Zahlen her müssen. „Das 1:7 ist eine Tatsache“, sagt Trainer Tite. „Aber auch die Deutschen haben lange an 2002 gedacht, an das WM-Finale in Japan, den Fehler von Kahn und die Tore von Ronaldo. Jetzt müssen wir mit dem 1:7 leben – solange wir kein anderes Spiel haben.“
Brasiliens oberster Fußballlehrer heißt eigentlich Adenor Leonardo Bacchi und wird doch trotz seiner würdevollen weißen Haarpracht von allen nur bei seinem kindlich anmutenden Spitznamen gerufen. Tite, gesprochen: „Tschitschi“, mit Betonung auf der ersten Silbe. Unter ihm blühten all die auf, die Luiz Felipe Scolari, der WM-Trainer von 2014, ignoriert hatte.
Die neuen Stars heißen Firmino, Coutinho und Jesus
Zum Bespiel der frühere Hoffenheimer Roberto Firmino vom FC Liverpool, der von dort nach Barcelona gewechselte Philippe Coutinho oder Gabriel Jesus von Manchester City. Über allen aber steht Neymar, der Weltstar von Paris St. Germain, aber der wird in Berlin verletzt fehlen. Noch eine Erinnerung an das Halbfinale von 2014. Tite sagt, das sei kein Problem und die Mannschaft dürfe sich nicht von einem einzigen Spieler abhängig machen. Dafür haben sie in Brasilien das schöne Wort „Neymarpendencia“ erfunden. In Berlin soll Douglas Costa auf Neymars Position spielen, „er macht das bei Juventus Turin sehr gut“, sagt Tite. Wer den dribbelnden Filou Costa aus seiner Zeit beim FC Bayern in Erinnerung hat, ist gespannt darauf, wie ihn Tite zum Neymar-Double umgeschult hat.
Wie sehr sich dieser Neymar da Silva Santos Junior mit seiner individuellen Qualität noch einmal von der neuen hochbegabten Generation des brasilianischen Fußballs abhebt, ließ sich sehr schön beim bisher größten Erfolg unter Tite beobachten. Neymar war der überragende Mann beim 3:0 in der WM-Qualifikation gegen den alten Lieblingsfeind Argentinien.
{Brasilien ist gespalten. "Die WM hat unsere Stadien elitisiert"}
Das war ein schöner Augenblick, aber nicht mehr. Das Trauma wirkt bis heute nach, dank Tite nicht mehr so sehr auf dem Fußballplatz, aber immer noch im Alltag. Fragt man heute die Brasilianer, was sie über die Weltmeisterschaft 2014 denken, erntet man ein sarkastisches Lachen. Die Copa, das ist hier Konsens, war ein Desaster. Sie hat den Brasilianern nichts anderes hinterlassen als eine alles überwuchernde Korruption, unnütze Stadien und einen kaputten Fußball. Das „Erbe der WM“, das vor dem Event immer von den Verantwortlichen beschworen wird, um die teuren Stadionbauten und die Fifa-Sondergesetze inklusive Steuerbefreiung für den Weltfußballverband und seine Sponsoren zu rechtfertigen – in Brasilien ist es ein Berg aus Schulden.
Brasilien - ein fußballerisches Entwicklungsland?
Deswegen war dieses 1:7 gegen Deutschland auch mehr als ein verlorenes Fußballspiel. Es stand für die extreme Selbstbezogenheit eines Landes, dessen Eliten meinen, sie müssten nicht schauen, was im Rest der Welt vor sich geht. Nicht bei der Bildung, beim Klimaschutz oder der globalen Wirtschaftsumstellung. Und plötzlich sollten sie auch beim Fußball nur noch ein Entwicklungsland sein? Die Seleção, das ist im brasilianischen Selbstverständnis die Auswahl junger Männern, die alle vier Jahre hinausgeschickt wird, um den WM-Titel zu holen und der so tief in Arm und Reich gespalteten Nation etwas zu schenken, worauf alle gemeinsam stolz sein können. Nicht nur der Ruf der Seleção hat 2014 schwer gelitten.
Der zweite große WM-Verlierer war der Fußball selbst. Die WM hat Brasiliens Stadien in Arenen nach Fifa-Standards verwandelt. Es gibt nun keine günstigen Stehplätze für die Fans aus den Armenvierteln mehr, sondern Vip-Logen für eine Champagner trinkende Elite. Die Armen können sich Tickets nicht leisten, die Reichen interessieren sich nicht für den rumpeligen Liga-Fußball. Der Zuschauerschnitt in Brasiliens Serie A liegt bei 16.800 Besuchern. „Am meisten verloren hat der brasilianische Fan“, sagt Stefano Salles, Sportreporter bei Rios größter Zeitung „O Globo“: „Die WM hat unsere Stadien elitisiert.“
Bei zehn WM-Stadien laufen Korruptionsermittlungen
Fünf der insgesamt zwölf WM-Arenen sind heute Weiße Elefanten. Riesige Bauten, die niemand braucht, aber alle mit Millionen Reais an Steuergeldern unterhalten müssen. Die Weißen Elefanten stehen in Manaus, Brasilia, Cuiaba, Natal und Recife. Bei gelegentlichen Fußballspielen verlieren sich ein paar Hundert Besucher auf den riesigen Tribünen. In das Estadio Mane Garrincha der Hauptstadt Brasilia passen etwa 72.000 Menschen, aber der beste Verein der Stadt spielt in der vierten Liga. Das Stadion verschlang umgerechnet eine halbe Milliarde Euro, es war das teuerste der Copa 2014. Warum die Stadien trotz solcher Widersprüche und lauter Warnungen gebaut wurden, ist heute klar: Es flossen Schmiergelder. Im Fall von zehn Stadien laufen deswegen Korruptionsermittlungen.
In korrupte Machenschaften ist auch Brasiliens Fußballverband CBF verstrickt. Sein früherer Präsident José Maria Marin wurde 2015 in der Schweiz festgenommen und 2017 in den USA vor Gericht gestellt. Aus Angst, dass ihm Ähnliches blühen könnte, mag sein Nachfolger Marco Polo Del Nero Brasilien nicht mehr verlassen. Er wird vom FBI der Verschwörung und Geldwäsche beschuldigt. Dennoch ist er immer noch CBF-Präsident. Brasilianische Verhältnisse.
Als Wiedergutmachung gilt in Brasilien nur der WM-Titel
Die Fifa hat bei der WM 2014 eigenen Angaben zufolge einen Profit von 2,6 Milliarden Dollar gemacht. „Diese Plünderung der Gastländer mithilfe inländischer Eliten funktioniert immer dort besonders gut, wo Demokratie und Justiz schwach sind“, sagt der Experte für die sozialen Folgen von Mega-Events, Christopher Gaffney, der an der New York University lehrt. Brasilien sei dafür ein gutes Beispiel.
Der Fußball war dort schon immer größer als der Sport an sich. Aber er kann nie groß genug sein, all die Probleme zu lösen, die mit ihm in Verbindung gebracht werden. Wenn die Seleção also am Dienstag gegen Deutschland antritt, wird viel vom 1:7 die Rede sein. Aber selbst ein brasilianischer Sieg würde herzlich wenig im Kampf gegen die Korruption in der Heimat helfen. Er wäre nicht mal Kompensation für das sportliche Trauma von 2014. Eine WM ist eine WM und ein Freundschaftsspiel nur ein Freundschaftsspiel. „Was wir von diesem Spiel wollen? Einen Eindruck von dem, was uns bei der WM erwartet“, sagt Tite. Und gibt doch zu, dass ein Spiel gegen Deutschland etwas anderes sei als gegen Russland. „Die Deutschen sind neben Frankreich, Spanien und uns einer der großen WM-Favoriten. Und sie waren Weltmeister in unserem Haus.“
Tite hat den brasilianischen Fußball auf einen guten Weg gebracht. Aber Wiedergutmachung kann, wenn überhaupt, nur bei der Weltmeisterschaft erfolgen. Mit einem Sieg im Finale am 15. Juli, vier Jahre und sieben Tage nach Belo Horizonte. Im Moskauer Luschniki-Stadion, wo die Brasilianer am Freitag schon mal vorgespielt und einen Eindruck ihrer neu entdeckten Schönheit hinterlassen haben.