Dagur Sigurdsson: Der Mann, der Handball-Deutschland retten soll
Deutschland gehört nicht mehr zur Weltspitze im Handball und darf bei der WM in Katar nur dank einer Wild-Card teilnehmen. Der neue Nationaltrainer Dagur Sigurdsson soll die deutschen Handballer wieder nach oben führen - und könnte der richtige Mann dafür sein.
Womöglich hat es auch an den kurzen Tagen gelegen, dass Dagur Sigurdsson Island verlassen hat. Oder am Wetter. Zwischen Oktober und April erreicht die Tageshöchsttemperatur nur ganz selten den Nullpunkt, der Wind pfeift dann noch eisiger über die Vulkaninsel im Nordatlantik und Regen ist so gut wie garantiert. Alles in allem eine ziemlich unwirtliche Gegend, da will Sigurdsson gar nicht widersprechen. „Auf Island ist es das halbe Jahr dunkel, da sucht man sich eben ein paar Aufgaben mehr, um die Tage rumzukriegen“, sagt er, „deshalb haben die meisten Leute auch zwei Berufe.“ Wie er heute, als Trainer der Füchse Berlin und der deutschen Handball-Nationalmannschaft.
Dabei hat Sigurdsson im Winter 2009 den sichersten Job der Welt besessen. Nach der aktiven Karriere hatte es der 215-fache Nationalspieler zum Manager und Geschäftsführer seines Heimatvereins Valur Reykjavik gebracht. Jede Entscheidung ging über seinen Tisch. Wenn überhaupt, hätte er sich schon selbst entlassen müssen. „Es gab damals nur eine Ausnahme, für die ich Island mit meiner Familie wieder verlassen hätte“, sagt Sigurdsson rückblickend. „Für ein Angebot aus Deutschland, aus der Bundesliga.“
Sechs Jahre später sitzt Sigurdsson in einem Luxushotel in Doha. Draußen hinter den auf Hochglanz polierten Fenstern spiegelt sich die Skyline der katarischen Hauptstadt im Meer wider, aber das interessiert die etwa 50 anwesenden Journalisten natürlich nur bedingt. Ihnen geht es um ganz andere Fragen: Wer beginnt bei der Weltmeisterschaft im Tor? Für welche Abwehrformation haben sich die Deutschen entschieden? Und wer von den 18 Spielern hat es in den 16er-Kader geschafft? Sigurdsson macht einen recht entspannten Eindruck, hier ein Späßchen, da ein Spruch, „aber wie es in mir aussieht, das verrate ich euch nicht“.
Dagur Sigurdsson soll die Deutschen in die Weltspitze zurückführen
Der 41-Jährige steht vor seinem ersten großen Turnier als Trainer beim Deutschen Handball-Bund (DHB). Bei der WM, die Gastgeber Katar gestern mit einem 28:23 (15:12)-Sieg gegen Brasilien eröffnete, trifft die Nationalmannschaft in ihrem ersten Gruppenspiel auf Polen (Freitag 17 Uhr/Sky). Sigurdsson soll die Deutschen in die Weltspitze zurückführen – perspektivisch bis zur WM 2019 in Deutschland und Dänemark. Für Olympia 2020 hat der DHB vorsorglich die Goldmedaille als Ziel ausgegeben. Sigurdssons Vertrag ist nur bis Sommer 2017 datiert. Wenn bis dahin nicht viel schiefläuft, darf er sich beider Großprojekte annehmen.
Was für ein Typ ist dieser Mann, in den die Entscheidungsträger beim DHB so viele Hoffnungen setzen? Der dafür sorgen soll, dass die zuletzt chronisch erfolglose Sportart wieder die Aufmerksamkeit erfährt, die ihr in den Glanzzeiten mit Nationaltrainer Heiner Brand sicher war? Seit dem Titelgewinn im eigenen Land 2007 hat die Nationalmannschaft kein WM-Halbfinale mehr erreicht.
Dagur Sigurdsson: Die Arbeit mit dem Nachwuchs ist seine Stärke
An Spieltagen wirkt Sigurdsson oft unnahbar, er ist dann im Tunnel, in seinen Antworten meist freundlich, aber nie ausschweifend. Vor allem aber ist er: konzentriert. Bei längeren Interviews ist er zugänglicher, schlägt auch mal die Beine übereinander, lehnt sich in den Sessel zurück und erzählt. Und erzählt und erzählt. Zum Beispiel von seinen Plänen für die Zeit nach dem Handball. In Reykjavik hat Sigurdsson gemeinsam mit Freunden eine alte Keksfabrik umbauen lassen, heute beheimatet das Gebäude ein gut laufendes Hostel. Oder von seiner Zeit in Japan. Von 2000 bis 2003 spielte er für den Erstligisten Wakanuga Hiroshima. Bis heute reist er jedes Jahr in der Sommerpause für Seminare und ein Trainingslager nach Japan, um den Handball dort voranzubringen.
"Wenn ich zwei Spieler auf einem Level habe, nehme ich immer den jüngeren"
Die Arbeit mit dem Nachwuchs ist ein zentrales Thema vom neuen Bundestrainer. Sigurdsson hat sich im zurückliegenden Sommer auch deshalb gegen alle anderen Kandidaten durchgesetzt, weil er bei seinem Bundesliga-Verein den Nachweis erbracht hat, exzellent mit Talenten umgehen und diese zu gestandenen Profis formen zu können. In den letzten Jahren haben die Füchse Berlin und Sigurdsson mehr als ein Dutzend junger Profis ausgebildet – so viele wie kein anderer Bundesligist. „Wenn ich zwei Spieler auf einem Level habe, nehme ich immer den jüngeren“, sagt Sigurdsson. „Ich bin mit diesem System groß geworden. Als ich mit Anfang 20 ins Nationalteam kam, wurde mir auch sofort Verantwortung übertragen.“
Sigurdsson soll mit der deutschen Nationalmannschaft das machen, was ihm als Trainer der Füchse gelungen ist: eine Mannschaft aufbauen, die auf dem Papier vielleicht ihre Schwächen hat, aber stets von der Geschlossenheit lebt. Eine Mannschaft, in der Talente von arrivierten Kräften lernen können. Dementsprechend sieht auch Sigurdssons Kader für die WM aus: neben international erfahrenen Akteuren finden sich darin sechs Neulinge wieder, die ihr erstes großes Turnier bestreiten werden. „Die Jungs brauchen jetzt ihre Spielzeit und werden sie auch bekommen“, sagt Sigurdsson. Deshalb besteht die größte Herausforderung für ihn auch darin, bei allen langfristigen Visionen die Konkurrenzfähigkeit seines Teams zu wahren. Beim Turnier in Doha geht es schließlich auch um die Qualifikation für Olympia 2016.
Andererseits ist Sigurdsson eine Doppelbelastung nicht fremd. Seit seiner Benennung im Oktober tut er sich zwar etwas an, von dem alle abraten, die sich das auch schon mal angetan haben: neben seiner Vereinsmannschaft zusätzlich ein Nationalteam zu trainieren. „Ich weiß, worauf ich mich da eingelassen habe“, sagt Sigurdsson aber, „deshalb werde ich nicht jammern.“ Vor sechs Jahren betreute er schon einmal zwei Teams: die Füchse und Österreichs Nationalmannschaft. Ein Schwachpunkt ist jedoch auch bei Sigurdsson nicht zu leugnen: seine Explosivität an der Seitenlinie, die ihm schon Zeitstrafen einhandelte. Andererseits braucht die Nationalmannschaft nach der Ära des zurückhaltenden Martin Heuberger womöglich genau so einen Trainer.
Christoph Dach