zum Hauptinhalt
Stilecht. Günter Netzer gab nicht nur auf dem Rasen Gas.
© imago/Horst Galuschka

Günter Netzer wird 75: Der lange Blonde mit dem großen Fuß

Zu seinem 75. Geburtstag am Samstag wird Günter Netzer vor allem als Popstar gefeiert. Dabei war er in erster Linie ein wunderbarer Fußballer.

Fast könnte man es für eine Verbeugung des deutschen Fußballs vor einer seiner größten Legenden halten. An diesem Samstag, an dem Tag, an dem Günter Netzer seinen 75. Geburtstag feiert, treffen Borussia Mönchengladbach und der 1. FC Köln in der Bundesliga aufeinander. Gladbach gegen Köln – kein anderes Spiel wird so sehr mit Günter Netzer verbunden wie dieses. Weil es das Spiel ist, mit dem er sich in die Annalen des deutschen Fußballs eingeschrieben hat.

Samstag, der 23. Juni 1973, das Finale um den DFB-Pokal. Es ist heiß und schwül, als sich im Düsseldorfer Rheinstadion die beiden Klubs gegenüberstehen. So heiß und so schwül, dass Wolfgang Kleff, dem Torhüter der Gladbacher, beim Anblick der vom nahen Flughafen startenden Flugzeuge der Gedanke kommt, ob er nicht einfach einen Ball durchlassen soll, damit es kein Wiederholungsspiel gibt und er die für den nächsten Tag gebuchte Urlaubsreise nach Griechenland nicht stornieren muss.

Günter Netzer, Borussias Kapitän und Spielmacher, sitzt trotzt der Hitze mit zugezogener Trainingsjacke auf der Ersatzbank. Es könnte nach zehn Jahren sein letzter Auftritt für den Verein aus seiner Heimatstadt sein. Nach dem Finale wechselt er zu Real Madrid. Aber Hennes Weisweiler hat andere Pläne. Und Borussias Trainer kann mindestens genauso stur sein wie Netzer. „Ich stelle ihn nicht auf“, sagt er am Tag vor dem Spiel. „Und wenn sie mich morgen steinigen.“

Objektiv betrachtet gibt es gute Gründe für diese Entscheidung: Netzer plagt sich schon länger mit diversen Wehwehchen, dazu ist wenige Tage vor dem Finale seine Mutter gestorben. Und trotzdem sitzt Borussias größter Star, der „King vom Bökelberg“, widerwillig auf der Bank und schaut dabei zu, wie sich eines der spektakulärsten Spiele der deutschen Fußballgeschichte entwickelt. Das Spiel ist so gut, dass Netzer sich sogar seinem Trainer offen widersetzt, als der ihn zur zweiten Halbzeit einwechseln will. Netzer sieht nicht, wie er dieses Spiel besser machen könnte.

1:1 steht es da. 1:1 steht es auch nach 90 Minuten. Die Spieler fallen erschöpft zu Boden. Netzer schleicht durch die Reihen und bleibt beim jungen Christian Kulik stehen. „Kannst du noch?“, fragt er ihn. „Nein“, antwortet Kulik. Netzer setzt sich auf den Rasen, zieht die Trainingshose aus. Warum, das kann er nicht erklären. Er geht zu Weisweiler. „Ich spiel’ dann jetzt“, sagt er.

Pokalfinale trägt maßgeblich zur Legendenbildung bei

Der Rest ist bekannt. Zwei Minuten später spielt Netzer im Mittelfeld einen Doppelpass mit Rainer Bonhof, der Ball rollt ihm vor den linken Fuß, er hoppelt ein bisschen auf dem trockenen Rasen und rutscht ihm dadurch leicht über den Spann. Nur deshalb trifft Netzer ihn so, dass der Ball zum 2:1-Endstand in den linken Winkel des Kölner Tores fliegt. „Wenn man von jenem Tag einen Film drehen würde, hieße es, um Himmels willen, so ein Kitsch … Aber es war Realität“, hat Günter Netzer jetzt in einem Interview mit dem „Kicker“ gesagt. „So viel Glück kann man nie mehr im Leben haben.“

Dieses Spiel, das DFB-Pokalfinale gegen Köln, hat maßgeblich zur Legendenbildung beigetragen. Dieses Spiel ist der letzte Beweis: Günter Netzer ist anders, Günter Netzer ist außergewöhnlich – Günter Netzer ist der Rebell am Ball, wie eine frühe Biografie über ihn heißt. All das erhebt ihn zum ersten Popstar des deutschen Fußballs, was Anfang der Siebziger allerdings nicht allzu schwer ist, weil die Fußballer in jener Zeit eher bieder daherkommen.

Netzer hingegen ist selbst für seinen Freund und Kollegen Berti Vogts ein „Mensch voller Eigenarten, ja Rätsel“. Er trägt die Haare lang, als das noch als politisches Statement gilt; er kleidet sich oft in existenzialistisches Schwarz, interessiert sich für Kunst, verkehrt in Künstlerkreisen, betreibt eine Diskothek und ein Restaurant und lebt seine Liebe zu Sportwagen aus. „Ich bin gern mit Leuten zusammen, die interessant sind, amüsant oder geistreich“, sagt er in jener Zeit. So wird Netzer mehr und mehr zur Projektionsfläche für die Intellektuellen, die gerade anfangen, sich für den Proletensport Fußball zu interessieren.

Netzers Klub, die Borussia aus der niederrheinischen Provinz, wird als aufmüpfiger Konkurrent der staatstragenden Bayern aus der Metropole München, sogar zum fußballerischen Arm der außerparlamentarischen Opposition stilisiert. Netzers Spiel gilt als Beleg für den gesellschaftlichen Aufbruch in jener Zeit, in der Willy Brandt mehr Demokratie wagen will, und seine Pässe atmen angeblich den Geist der Utopie. Doch diese Überhöhung ist Netzer selbst nie geheuer gewesen – weil sie nicht der Wahrheit entspricht.

Fast schwebend. Günter Netzer (rechts) gibt dem Spiel von Mönchengladbach Anfang der Siebziger die unverwechselbare Note.
Fast schwebend. Günter Netzer (rechts) gibt dem Spiel von Mönchengladbach Anfang der Siebziger die unverwechselbare Note.
© imago/WEREK

„Ich lege größten Wert darauf, dass keine Strategie dahintergesteckt hat“, sagt Netzer über sein Aussehen und sein Auftreten jenseits des Platzes. „Das ist ein Lebensstil gewesen, den meine Freundin bei mir gewünscht hat.“ Netzer zieht das an, was ihm morgens rausgelegt wird. Ziemlich bieder eigentlich.

So aber hat sein Lebensstil immer ein wenig den Blick abgelenkt von dem wundervollen Fußball, den Netzer gespielt hat. Wobei beides dieselbe Wurzel hat. „Die Ästhetik hat eine große Rolle für mich gespielt“, sagt Netzer. Auf dem Platz genauso wie daneben. Aber wer heute nicht fünfzig oder älter ist, hat eben keine aktive Erinnerung mehr an den Fußballer Netzer; der kennt ihn nur als Manager, Sportrechtevermarkter, TV-Experte und auch Lebemann.

Dabei ist Borussia Mönchengladbach in den frühen Siebzigern vor allem dank Günter Nezter die wohl aufregendste Mannschaft der Bundesliga. Hennes Weisweiler, der vom Offensivfußball geradezu besessene Trainer, mag die Fohlen-Elf erschaffen haben; den unverwechselbaren Stil aber verpasst ihr Günter Netzer. „Der Meisterregisseur vom Bökelberg“, wie ihn das „FAZ-Magazin“ einmal genannt hat, gibt Borussias Spiel die unverwechselbare Note, das Leichte, Flirrende, fast Schwebende. „Der Günter ist die Seele unseres Spiels“, hat Berti Vogts gesagt.

Beifall auf offener Bühne für den Gegner aus Liverpool

Netzer steht auch als Fußballer für das Primat des Ästhetischen. Niemand legt sich den Ball mit so viel Liebe zum Detail zum Freistoß zurecht wie der lange Blonde mit dem großen Fuß. „Mir war der lange Pass nicht gut genug“, hat er einmal gesagt. „Es musste etwas Besonderes sein.“ Und wenn es der Gegner ist, dem dieses Besondere gelingt, ist Netzer der Erste, der dies zu würdigen weiß. 1973, im Uefa-Cup-Finale gegen den FC Liverpool, klatscht Borussias Kapitän den Engländern nach einem gelungenen Spielzug auf offener Bühne Beifall.

„Ich war zweifellos anders als meine Kollegen. Ich habe anders ausgesehen, ich habe anders gelebt, vor allem habe ich anders Fußball gespielt“, sagt Netzer. „Das war die Basis meines Erfolgs.“ Das Lovers’ Lane, die Diskothek in der Mönchengladbacher Altstadt, hat er nicht eröffnet, weil ihm das Nachtleben in seiner Heimatstadt zu dröge war. Es geht ihm um eine zusätzliche Einnahmequelle. Auch Hennes Weisweiler versteht es nicht. Oder will es nicht verstehen. „Das ist das Ende“, stöhnt er, als er vom Einstieg seines Spielmachers ins Gastronomiegewerbe erfährt. Doch Netzer steht nicht nachts um halb drei hinterm Tresen, um Cocktails zu mixen. Er sagt: „Ich glaube, ich war nie in meinem Leben so seriös wie in dieser Zeit.“

Zur Startseite