Tagesspiegel-Wahl: Netzer ist bester Spiellenker: Der erste Popstar des Fußballs
Experten-Jury und Tagesspiegel-Leser haben Günter Netzer zum besten Spiellenker der 50-jährigen Bundesliga-Geschichte gewählt. Doch Netzer war mehr als nur Fußballer: Er verband Sport und Kunst und lebte in der Welt der Avantgarde.
Und dann kam er endlich ins Spiel, an jenem 23. Juni 1973, als sich im Düsseldorfer Rheinstadion der 1. FC Köln und Borussia Mönchengladbach in der regulären Spielzeit nicht hatten einigen können, wer denn nun den DFB-Pokal in die Höhe stemmen durfte. Hennes Weisweiler, der legendäre Trainer der Mönchengladbacher, hatte seinen Star, den Denker und Lenker des Mönchengladbacher Spiels, hatte Günter Netzer nicht nominiert für das Finale. Aus guten Gründen; einige Tage zuvor war Netzers Mutter gestorben, sehr plötzlich, mit nur 61 Jahren. Zudem war Netzers bevorstehender Wechsel ins Ausland, zu Real Madrid, vorzeitig bekannt geworden, ein Wechsel, der damals noch nicht nur auf dem Boulevard als Vaterlandsverrat gehandelt wurde.
Aber dann fiel Christian Kulik, Netzers Mitspieler in der Pause vor der Verlängerung dieses hochklassigen Spiels erschöpft um, Netzer zog sich die Trainingsjacke aus, streifte die Trainingshose ab und ging zu Weisweiler, der apathisch auf der Bank hockte. „Ich spiele jetzt“, sagte Netzer im Vorbeigehen, Weisweiler reagierte nicht.
Nach Anpfiff bekam Netzer sofort den Ball zugespielt, er rannte los, mit dem Ball am Fuß, spielte einen Doppelpass mit Rainer Bonhof, bekam den Ball zurück, lief noch ein, zwei Schritte, trat zu, traf den Ball falsch, traf ihn mit dem Außenspann, und der Ball landete, unerreichbar für Kölns Torwart Gerhard Welz im oberen linken Winkel.
Wahrscheinlich ist das die berühmteste Szene des Fußballspielers Günter Netzer, und dass sie sich nicht in einer Partie der Bundesliga ereignete, ändert nichts an der Tatsache, dass Netzer eine der prägendsten Figuren dieser Bundesliga war. Auf dem Platz sowieso mit seinen Pässen in die Tiefe des Raumes, denen die schnellen Außenstürmer Ulrik le Fevre und Jupp Heynckes nachhetzen mussten, sollten, wollten und damit ein Offensivspiel öffneten, dass der deutsche Fußball bis dato noch nicht gesehen hatte.
Aber mehr noch war Günter Netzer neben dem Platz tätig. Er war, wenn man so will, der erste Popstar im deutschen Fußball. Er war – anders, so ganz anders, als alle anderen Kicker der Liga. Und so wie die leidenschaftliche Borussia zum Gegenentwurf des nüchternen und kalkulierenden FC Bayern München wurde, wurde Borussias Protagonist zum Gegenentwurf des gängigen Spielertypus. Da waren seine Haare, die länger wehten als die anderen Matten, da war sein extravaganter Lebensstil, den er unter anderem im damals sehr verwegenen Ferrari auslebte, und da war vor allem sein Dauerzwist mit seinem Trainer Weisweiler, der Netzer zum ersten Rebellen am Ball werden ließ. „Abseits is“, hatte der Rheinländer Weisweiler, ein Mann mit großem Herzen und unverfälschtem Kölsch im Dialekt einmal gesagt, „Abseits is, wenn dat lange Arschloch zu spät abspielt.“ Weisweiler propagierte die Daueroffensive, Netzer war das zu aufwendig, zu risikoreich. Wobei die Geschichte ihm, Netzer, recht gab, die Borussia feierte erst ihre großen Erfolge, nachdem man Weisweiler mühsam hatte überreden können, auch einmal ein paar härtere Knochen für die Abwehr zu engagieren.
Nicht, dass sich Netzer und Weisweiler spinnefeind waren, sie respektierten sich, sie schätzten sich, wussten, was sie füreinander wert waren. Vielleicht mochten sie sich sogar. Aber hier Weisweiler, ein Mann von altem Schlage, für den Fußball vor allen Dingen aus Liebe und Leidenschaft bestand und dort Netzer, der sich als Geschäftsmann verstand und sein geniales Spiel als Kapital – das waren Welten und Werte, die sich diametral gegenüberstanden.
Netzer verdiente auch im kleinen Mönchengladbach nicht schlecht. Verglichen mit den Gehältern, die seine Münchner Nationalmannschaftskollegen Beckenbauer, Müller, Hoeneß, Breitner kassierten, war Netzer kein armer Schlucker, aber ein Schlucker. Er glich das aus, vermarktete sehr früh die Stadionzeitung, dann eröffnete er eine Diskothek, das „Lovers’ lane“, was Weisweiler kommentierte: „Dä is nun völlig bekloppt jeworden.“
Beckenbauer wütete: "Du hast mir eine Schrottkiste verkauft"
Netzer war anders, ganz anders. Er hatte Freunde in der Mannschaft, Berti Vogts, Jupp Heynckes, sie sind es bis heute geblieben, aber Netzer lebte da schon in anderen Sphären, in der Welt, die man Avantgarde nannte oder eben: Pop. Man kann den Unterschied zwischen Netzer und seinen Berufskollegen auch an einer kleinen Episode um einen Autokauf ablesen. Netzers erstes extravagantes Auto war ein Jaguar E, sechs Zylinder, 265 PS, 4,2 Liter Hubraum, 240 km/h schnell, unschlagbar beim Autoquartett, und für die, die so etwas mögen, ein Traum von Auto. Als Netzers Liebe zum Jaguar erlosch und er sich dem Ferrari zuwandte, verkaufte er Franz Beckenbauer den Sportwagen, in dem es auch schon mal ruckelt und zieht und bei starkem Regen durchs Faltdach tropft. Zwei Tage nach dem Kauf rief Beckenbauer in Mönchengladbach bei Netzer an: „Das ist ja eine Schrottkiste, die du mir verkauft hast.“ Nächster Testfahrer des Jaguars war Wolfgang Overath, der begnadete Kölner Fußballer, der neben dem Platz aber eher zurückhaltend und schüchtern war. Später vermutete Netzer, dass das Raubtier in Wolfgang Overath exakt so lange mit ihm auf die Pirsch ging, bis die Probefahrt zu Ende war.
Netzer ging andere Wege, angetrieben von seiner damaligen Freundin, der Goldschmiedin Hannelore Girrulat. Netzer trug Schwarz, trug Rollkragenpullover, die Uniform der französischen Bohème, von deren Existenz Netzer allerdings nicht mal im Ansatz etwas wusste. Netzer hörte die Stones, die damals, Mitte der sechziger Jahre, noch keine Ewigrocker waren, sondern der Bürgerschreck schlechthin. Netzer bewegte sich in der Düsseldorfer Kunstszene, auch da von Frau Girrulat hineingeführt, lernte Markus Lüpertz kennen, Sigmar Polke, Georg Baselitz. Und irgendwann rief die Kunsthochschule Düsseldorf an. Aus der Meisterklasse von Joseph Beuys war der Vorschlag gekommen, ihm, Netzer, eine Professur für angewandte, ausübende und praktizierende Kunst anzutragen. Der Instinktfußballer Netzer konnte sich jedoch auf seine Instinkte verlassen, er lehnte ab, vielleicht hat er auch gespürt, dass der Kult um ihn schnell enttarnt werden könnte, wenn er konkret abgefragt würde.
Netzer wurde zum Mythos, wurde zum Hauptdarsteller des bis dahin wohl besten Fußballs, der je in Deutschland gespielt wurde. Und er wurde zum Symbol, mitunter auch mit waghalsigen Interpretationen. Es war eine politische Zeit in diesen späten sechziger und frühen siebziger Jahren. Willy Brandt wagte mehr Demokratie, was mancher übereifrige Zeitgenosse auf Netzer übertrug, weil dessen Pässe auch Visionen in der Zukunft vorschlugen. Es sei dahingestellt, welche Projektionen eine ernsthafte Prüfung überleben, die des Kunstkenners Netzer wahrscheinlich nicht, die des politischen Fußballspielers ganz gewiss nicht. Aber wie das bei Mythen eben ist, sie mögen manchmal verblassen, aber völlig zerstören lassen sie sich nicht. Und warum sollte das bei Günter Netzer auch geschehen? Der Mann mit dem wehenden Haar, der Mann aus der Tiefe des Raumes, wird bleiben als der erste Popstar des deutschen Fußballs.