Schach-Weltmeister Magnus Carlsen: Der Großmeister aller Klassen
Wunderkinder gibt es viele im Schach. Magnus Carlsen übertrifft sie alle. Nun ist er wieder dort, wo seine Karriere einst Fahrt aufnahm: in Berlin.
Er macht es sich gerne langbeinig am Tisch bequem. Das Entschiedene und Hemdsärmlige wird schnell für Arroganz gehalten, doch das täuscht. Wie so manches in der jungen und doch so spektakulären Karriere des 24 Jahre alten Norwegers, der zum Popstar des Schachspiels geworden ist.
Viele Meister waren Wunderkinder, aber Magnus Carlsen war schon als Kind einzigartig. Mit zwei Jahren konnte er ein Puzzlespiel mit 50 Teilen lösen, mit fünf lernte der Sohn einer Ingenieurin und eines Ingenieurs das Schachspiel. Ullrich Krause vom dreimaligen Deutschen Meister Lübecker SV erinnert sich noch gut daran, als sein Klubkollege Simen Agdestein ihm einst berichtete: „Ich habe ja immer wieder gute Schüler, aber jetzt habe ich einen, der ist wirklich außergewöhnlich. Mit dem ist es etwas ganz Besonderes.“
Kurz vor seinem 23. Geburtstag nahm er Viswanathan Anand den WM-Titel ab. Sein Elo-Wert, der seine Spielstärke beschreibt, ist der höchste, der im Schach je erreicht wurde. Darauf kann er sich etwas einbilden, und Carlsen ist in der Tat ein selbstbewusster Mensch. Aber er bleibt freundlich und sportlich. Sich fair zu verhalten und trotzdem durchzusetzen, ist für ihn kein Widerspruch. Er reflektiert viel, dazu kommt ein leiser, aber bestimmter Humor. Selbstironie bewies er schon mit 13, als er eine goldene Chance bei einem K.-o.-Turnier gegen Garri Kasparow ausließ – sein Fazit: „Ich habe gespielt wie ein Kind.“
Dieser Tage spielt er nun in den Festsälen der Bolle Meierei in Moabit bei der WM im Blitz- und Schnellschach. Blitz habe nichts mit echtem Schach zu tun, lästern manche. Magnus Carlsen aber kann beides. Und seine Begabung zeigt sich nicht zuletzt daran, dass er in allen drei Disziplinen Weltmeister ist, im Turnier, Schnell- und Blitzschach. In Berlin will er bis Mittwoch und in 36 Partien zwei dieser Titel verteidigen. Prestige ist alles bei dieser Weltmeisterschaft in Berlin, denn vom guten Blitzen kann man zwar nicht leben, aber das Spiel mit knapper Bedenkzeit bedeutet den Profis dennoch viel, weil sie es lieben.
Mit zwei Jahren konnte Carlsen ein Puzzlespiel mit 50 Teilen lösen, mit fünf lernte er Schach
„Als ich aufwuchs, blitzte ich ständig, sowohl mit Freunden als auch online“, erzählt Carlsen. „Es ist das übliche Format, wenn Schachspieler in Vereinen oder im Netz Partien spielen.“ Neben den einschlägigen Plätzen in Moskau, Sankt Petersburg und Belgrad ist auch der Washington Square Park in New York eines der Epizentren in der Welt des Blitzschachs. Dort treffen sich Amateure und Semi-Profis. Viele spielen um Geld, treiben die Einsätze hoch und versuchen, den Touristen ein paar Dollar abzunehmen. Auch Carlsen war einer dieser Touristen. „Es hat Spaß gemacht und die waren ziemlich gut.“
In Berlin trifft er aber gerade bei der WM auf die besten Gegner, die er kriegen kann. „Das Wichtigste beim Blitzen ist der gute Flow und dass du zuversichtlich bleibst“, sagt er. Intuition und Entschlussfreudigkeit sind gefragt, die Genauigkeit wie beim Turnierschach ist in der Eile nicht möglich: „Fehler treten auf, das ist normal, aber du musst dranbleiben und dann auch die Chance nutzen, die mit Sicherheit kommt.“
Die Bundesligaspieler der Schachfreunde Neukölln lernten den damals 12 Jahre alten Magnus 2003 bei einem Klub- Pokalturnier auf Kreta kennen. Sie winkten ihn an den Pool und luden ihn zum Wasserball ein. 2005 spielte er dann als 14-Jähriger für die Berliner in der Bundesliga. Eine Plaudertasche ist Carlsen nicht, im vertrauten Kreis aber unterhält er sich offen über alles Mögliche: Gern über Sport, wo sein Wissen weit über die eigene Disziplin reicht. Im Fußball ist er Fan von Real Madrid, und als er sich vor zwei Jahren eigentlich von einer gewonnenen Weltmeisterschaft in Indien gegen Viswanathan Anand erholen wollte, lud ihn Madrids Klubpräsident Florentino Perez ein, den Anstoß zum Spiel gegen Valladolid zu machen.
Am Montag wird die Schnellschach-WM nach 15 Matches entschieden, dann folgen 21 Partien Blitz über zwei Tage
Da wirkte Carlsen selbst wie ein jugendlicher Fan. Im Turnierschach dagegen zeigt er die Reife eines Champions. Am gefährlichsten ist Carlsen, wenn die Stellungen in glatter See augenscheinlich ruhig dahindümpeln, meist in der vierten oder fünften Stunde. Sein Gegenüber wähnt sich in friedlichen Gewässern, aber wie aus dem Nichts fallen dem Champion Ideen zu, und mit einem Mal sieht sich sein Gegner von strategischen und taktischen Drohungen umzingelt.
Beim Blitz- und Schnellschach ist das anders, die Akribie lässt der Intuition und Entschlussfreudigkeit den Vortritt. Im Fluss zu bleiben ist beim Blitzen das eine, doch beim Schnellschach (15 Minuten plus 10 Sekunden Aufschlag pro Zug) ist es anders. „Du musst das Spiel wie eine ernsthafte Partie angehen und brauchst eine vernünftige Stellung, aber du kommst auch in Zeitnot und musst im entscheidenden Moment auf Blitz umstellen“, sagt Carlsen. „Das ist schwer und macht das Schnellschach zu einer sehr schwierigen Disziplin.“
Am Montag wird die Schnellschach-WM nach 15 Matches entschieden, dann folgen 21 Partien Blitz über zwei Tage. „Ich glaube, in Berlin werden alle Spieler das Blitzen ernst nehmen“, sagt Carlsen. „Für mein Gefühl tritt deine sportliche Verfassung in den Vordergrund, wenn du Blitz und Schnellschach spielst. Das sind eine Menge Partien. Du musst einfach immer weitermachen und pragmatisch handeln anstatt immer nach dem besten Zug zu suchen. Das ist mit der knappen Zeit auch gar nicht möglich.“
Wenn das Spiel ruhig scheint, schlägt Carlsen zu
Fünf Tage am Stück mit der Weltelite zu spielen, das ist für niemanden leicht, auch für Carlsen nicht. Auch wenn er sich nach der Blitz-WM in Moskau noch mit einem weiteren Superstar des Blitzens, dem US-Profi Hikaru Nakamura, im November 2010 zu einem nächtlichen Duell im Hotel einfand. Ein Film auf Youtube fängt die nächtliche Atmosphäre ein: warmes Licht mit vielen Holztönen, ein Brett, eine Uhr, zwei schweigende Teenager, beide Superstars, ein Fehler, dann die Revanche, so ging es in der Nacht über Stunden. „Nach den beiden Titelkämpfen entschlossen wir uns, weitere Partien zu spielen. Wir dachten an hundert, aber ich glaube, nach vierzig haben wir aufgehört“, erzählt Carlsen.
Die entsprechende Ausdauer aufzubringen, ist nicht das Problem dieser Stars, doch leider tritt Hakamura in Berlin nicht an und spielt lieber das „Millionair Chess“-Open in Las Vegas. In Berlin begleitet das norwegische Fernsehen Carlsen durch das Turnier. Der größte TV-Sender NRK überträgt alle Züge aus Moabit. „Schach ist sehr beliebt geworden im norwegischen Programm. Die Sender haben Konzepte entwickelt, um das auch Nicht-Spielern unterhaltsam nahezubringen. Mit Gästen, Spezialgrafiken und dergleichen. Sie waren sehr erfolgreich und hatten sehr, sehr hohe Quoten. Seitdem wurden beinahe alle Turniere, an denen ich teilnahm, live im Fernsehen übertragen“, erzählt Carlsen.
Carlsen ist mit 24 Jahren ein Star, der eine große Zukunft vor sich hat. Seine Familie sorgt dabei für die nötige Erdung. Er postet fröhlich Bilder vom Wettplanschen mit Gummitieren, spielt sehr gut Fußball und ist für das Spontane zu haben. So kam es, dass er auch zum Model für das Mode-Label G-Star Raw wurde. „Würde es ihn nerven, würde er es nicht machen“, sagt der Berliner Großmeister Rainer Polzin, der mit Carlsen zusammen bei den Schachfreunden spielte. Es sei schon schwierig gewesen, Magnus Carlsen als 12-Jährigen für seinen Club zu gewinnen. Eine Chance, ihn noch einmal als Mitspieler zu gewinnen, sieht er aber längst nicht mehr.
Fernando Offermann
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