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Ein Kämpfer – als Spieler und Trainer. Zu aktiven Zeiten ließ sich Bundestrainer Christian Prokop freiwillig die Oberschenkel brechen, um die Karriere zu verlängern. Auch um seinen Job als Bundestrainer hat der 40-Jährige gekämpft.
© picture alliance / Matthias Balk

Handball-Weltmeisterschaft: Der Bundestrainer und das Spiel mit der Zukunft

Vor einem Jahr wäre Christian Prokop fast seinen Job losgeworden. Jetzt muss der Bundestrainer bei der WM im eigenen Land beweisen, dass er es kann.

Die Zeit zwischen den Jahren nutzen viele Menschen, um einfach mal abzuschalten. Herunterfahren, entspannen, Akkus aufladen und ganz viel nichts tun. Im Hause Prokop hat sich das zuletzt allerdings schwierig gestaltet. „Es ist ja nicht so, dass ich erst seit gestern an Heiligabend Geburtstag habe – ich kenne das Datum“, sagt Christian Prokop und lacht. Weihnachten 2018 war für den Handball-Bundestrainer trotzdem speziell: Zum einen durfte er ein rundes Jubiläum feiern – und zum anderen hat die nächste sportliche Großveranstaltung längst ihre Schatten vorausgeworfen. „Wer mich kennt, der weiß, dass ich nicht ganz abschalten kann“, sagt Prokop.

Mit den Gedanken ist er natürlich seit Monaten bei dem Turnier, das über seine Zukunft als Bundestrainer und seinen Status im deutschen Handball entscheiden kann. Die verbaselte Europameisterschaft in Kroatien im Januar vergangenen Jahres, die für Titelverteidiger Deutschland mit einem desaströsen Auftritt in der Hauptrunde zu Ende ging, soll endlich der Vergangenheit angehören. Dafür bietet sich dem 40-Jährigen bei seinem zweiten Turnier als Bundestrainer die größtmögliche Bühne: eine Weltmeisterschaft im eigenen Land. Am Donnerstag eröffnet Gastgeber Deutschland die WM mit dem Vorrundenspiel gegen das vereinigte Team aus Korea (18 Uhr, Arena am Ostbahnhof und live im ZDF). „Wir wollen eine Mannschaft zum Anfassen sein, die begeistert und das Publikum von Beginn an mitnimmt“, sagt Prokop.

Deutschland will als Einheit überzeugen - kann das gelingen?

Der Bundestrainer weiß um die Bedeutung eines guten Auftakts. Das Turnier-Tableau meint es nicht gerade gut mit den Deutschen: In Vor- und Hauptrunde werden sie sich wohl kaum mehr als eine Niederlage erlauben dürfen, um das erklärte Minimalziel zu erreichen: den Einzug ins Halbfinale am 25. Januar in Hamburg. Umso wichtiger wird es für den Gastgeber sein, erfolgreich aus den Startlöchern zu kommen und als Einheit zu überzeugen. „Der einzelne wird immer seine Geschichte schreiben dürfen, aber die Mannschaft steht über allem“, sagt Prokop, „das wird uns auszeichnen.“

Vor einem Jahr sind diesbezüglich noch arge Zweifel aufgekommen, die dem frisch installierten Bundestrainer trotz zuvor störungsfreier Vorbereitung und tadelloser EM-Qualifikation beinahe den Job gekostet hätten. Deshalb kommt vor dem WM-Start 2019 auch keine Turniervorschau ohne einen Blick in den Rückspiegel aus; dafür ist bei der Europameisterschaft 2018 in Kroatien, dafür ist in den Tagen von Zagreb und Varazdin einfach zu viel passiert.

Seinen Kardinalfehler beging Prokop damals bereits vor dem ersten EM-Spiel: Trotz Intervention seiner Co-Trainer verzichtete er zunächst auf Abwehrchef Finn Lemke, einen allgemein geschätzten Typen, der nicht nur für die nötige Härte in der Defensive, sondern auch für das Klima im Team wichtig ist. Drei Tage später nominierte Prokop den 2,10-Meter-Riesen schließlich nach; als er diesen Umstand allerdings mit taktischen Überlegungen begründete und sich weigerte, seinen Fehler einzugestehen, fühlten sich nicht nur die mitgereisten deutschen Reporter – unter ihnen langjährige Beobachter und ehemalige Bundesliga-Profis – gelinde gesagt für dumm verkauft. Und als der DHB wenig später eine Mitteilung herumschickte, wonach es keine Differenzen zwischen Mannschaft und Trainer gebe, ahnte selbst die untalentierteste Spürnase: könnte vielleicht und unter Umständen doch atmosphärische Verwerfungen gegeben haben.

"Er hat Fehler gemacht, aber die Kritik war überzogen"

Prokop hatte sein Standing ohne jede Not massiv geschwächt, auch und gerade intern. Fortan wurde jede noch so kleine Geste des Trainers seziert, jeder kritische Halbsatz interpretiert. Die Geschehnisse kulminierten einen Tag vor dem entscheidenden Hauptrundenspiel gegen Spanien darin, dass Prokop das Training abbrach. In gut unterrichteten Handball-Kreisen erzählt man sich heute, der Bundestrainer sei mit Kreisläufer Patrick Wiencek aneinandergeraten, als es darum ging, wie Spaniens Spielmacher Joan Canellas beizukommen sei. Wiencek, so heißt es weiter, habe nach der Analyse des Bundestrainers darauf hingewiesen, Canellas ein bisschen besser zu kennen. Schließlich waren beide Spieler über Jahre Teamkollegen beim THW Kiel. Ein Wort gab das andere. Bis es richtig krachte.

„Christian hat damals sicher Fehler gemacht und diese später ja auch zugegeben. Für mich war die Kritik an seiner Person trotzdem überzogen“, sagt der ehemalige Nationalspieler Stefan Kretzschmar, „irgendwann haben sich alle auf den Trainer eingeschossen, weil es für die Spieler bequem war und in ihr Konzept gepasst hat.“ Man muss dazu wissen, dass Kretzschmar zu Prokops größten Fürsprechern und Förderern zählt. Als sie sich vor ein paar Jahren in Leipzig anschickten, den Bundesliga-Aufstieg in Angriff zu nehmen, vertraute der Aufsichtsrat des SC DHfK, zu dem Kretzschmar gehört, sein Projekt einem jungen, weitestgehend unbekannten Trainer an: einem gewissen Christian Prokop. In Leipzig verdiente er sich seine Meriten als gewiefter Taktiker und Fachmann, die ihm den Posten als Bundestrainer einbrachten.

Warum ihn der Vergleich mit seinem Vorgänger nervt

Allerdings musste Prokop schnell feststellen, dass die Nationalmannschaft nicht der SC DHfK Leipzig ist. Man hatte beinahe den Eindruck, dass er die Wucht und die Bedeutung seines neuen Amtes als oberster Handball-Lehrer des Landes grandios unterschätzt hatte. Der Bundestrainer versuchte unter allen Umständen, der Mannschaft sein taktisches Konzept aufzuzwingen anstatt das System nach den vorhandenen Spielern, ihren Stärken und Schwächen auszurichten. „In der Schule würde man von Frontalunterricht sprechen, also dass man alles vorgibt“, hat Prokop kürzlich in einem Interview gesagt. „Das war falsch“, ergänzte er noch, „heute beziehe ich die erfahrenen Spieler deutlich mehr in verschiedene Entscheidungen ein und tausche mich häufiger mit ihnen aus.“ Genau diese Einsicht war auch den Entscheidungsträgern im Verband wichtig, als sie sich nach dem EM-Debakel einigermaßen überraschend für eine Weiterbeschäftigung Prokops entschieden. Bob Hanning drohte im Interesse seines erklärten Wunschtrainers sogar damit, im Falle einer Demission selbst von seinem Amt als Vizepräsident des DHB zurückzutreten.

„Diese Zeit war sehr lehrreich für Christian und hat sicher auch Narben hinterlassen, weil er in einem Crashkurs lernen musste, unter welch großer Beobachtung man als Bundestrainer steht“, sagt ein Vertrauter aus Leipzig, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will. Andererseits ging Prokop eben nicht den Weg des geringsten Widerstands und schmiss alles hin, als ihn viele bereits abgeschrieben hatten. „Er hat um seinen Job gekämpft, das ist beachtlich und zeugt von Charakter“, ergänzt der Vertraute.

Dieser Umstand passt zu den Geschichten, die aus Prokops Zeiten als Aktiver übermittelt sind. Schon als junger Profi musste er lernen, außergewöhnliche Wege zu gehen: Mit Anfang 20 machten die Knie zum ersten Mal Beschwerden, klassisches Handballer-Problem. Nach drei Operationen setzte Prokop alles auf eine Karte – und ließ sich freiwillig die Oberschenkel brechen; dadurch verändert sich die Beinachse um neun Grad, aus einem X-Bein wurde ein leichtes O-Bein, das die Knie entlasten sollte. Die Ärzte verdrehten zwar die Augen, aber Prokop setzte seinen Willen durch. Später versuchte er ein ähnlich gewagtes Unterfangen und wechselte den Wurfarm, von rechts auf links, um das angeschlagene Knie weiter zu entlasten. Trotz besagter Torturen und entgegen sämtlicher Prognosen reichte es für ihn noch zu 41 Bundesliga-Spielen (80 Tore).

So stur wie Prokop als Spieler war, so wandlungsfähig und lernwillig hat er sich zuletzt als Trainer gezeigt. Nach dem EM-Debakel etwa ging von ihm der Impuls für eine teambildende Maßnahme in Form einer einwöchigen Japan-Reise aus, die bei den Nationalspielern nachhaltig Eindruck hinterlassen hat. Die zwei Tests im Land des Olympia-Gastgebers von 2020 besaßen zwar den Wert besserer Trainingsspiele. Nach allem, was man so hört, war der Ausflug allerdings sehr förderlich für die zwischenmenschlichen Beziehungen.

„Auf dieser Reise sind zwei, drei interne Sachen entstanden, die uns im Turnierverlauf hoffentlich helfen werden“, sagt Prokop bei einem Termin in Berlin Ende Dezember. Wer den Bundestrainer zuvor längere Zeit nicht erlebt hat, merkt schnell: Er gibt sich ganz anders als noch bei seinem Premierenturnier vor einem Jahr, viel kommunikativer, umgänglicher, offener. Seine Antworten fallen deutlich länger aus, er erzählt Anekdoten und ja: zwischenzeitlich lächelt er sogar – ein Bild, auf das man bei der EM in Kroatien vergeblich wartete.

Nur bei einem Thema ist ihm anzumerken, dass er es nicht mehr hören kann: den ewigen Quervergleich zu seinem Vorgänger Dagur Sigurdsson, dem statistisch erfolgreichsten Bundestrainer der Geschichte und Erfinder der „Bad Boys“. Unter diesem Titel stürmte eine von Verletzungen und Rückschlägen gebeutelte Nationalmannschaft 2016 in Polen zum Europameister-Titel. Gibt es nun also ein ähnliches Motto für die Heim-WM? „Ich will vorwegschicken, dass das eine tolle Idee von Dagur war, mit der sich alle identifizieren konnten“, sagt Prokop, „aber man muss auch sehen, dass diese Geschichte nun schon drei Jahre zurückliegt.“ Sigurdsson selbst reist als Trainer der japanischen Mannschaft zum Turnier in Deutschland an. Deshalb wolle man den Begriff der „Bad Boys“ nicht noch zusätzlich nach außen befeuern, wenngleich Prokop betont: „Wir werden diese Werte, die damit verbunden sind, im Mannschaftskreis weiterleben, gerade in der Abwehr: Sich und dem Gegner wehtun, die Bereitschaft zeigen, Meter zu machen, füreinander zu kämpfen, keinen Star in der Mannschaft zu haben. Ansonsten ist es Zeit für eine neue Identität.“

Darüber hinaus hat sich Prokop für die größte Bewährungsprobe seiner Trainerlaufbahn vor allem eines vorgenommen: so wenig externe Ablenkung wie möglich zuzulassen. Soziale Netzwerke will er während der WM komplett meiden, auch das Handy soll nur im Notfall zum Einsatz kommen. Prokop sagt: „Wenn das Turnier läuft, werde ich im Tunnel sein.“

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