Deutsche Handball-Nationalmannschaft: Das System bei der WM heißt Dagur Sigurdsson
Die deutschen Handballer überzeugen bei der Weltmeisterschaft in Katar durch ihre taktische Variabilität. Hauptanteil daran hat Bundestrainer Dagur Sigurdsson.
Alexander Haase zählte sicherheitshalber noch einmal nach und bediente sich dabei eines alten Grundschultricks: eins, zwei, drei, vier Finger – alles korrekt soweit. In seiner Funktion als Co-Trainer der Nationalmannschaft trägt der Potsdamer an der Seitenlinie unter anderem die Verantwortung dafür, dass beim Spielertausch alles mit rechten Dingen zugeht, sprich: dass die Zahl der Ausgewechselten mit der übereinstimmt, die wenig später aufs Feld geschickt werden. Wer da nicht aufpasst, wird im Handball bekanntlich mit Zwei-Minuten-Strafen sanktioniert.
Um das zu vermeiden, hatte Haase direkt im ersten WM-Spiel richtig viel zu tun – weil der Bundestrainer Dagur Sigurdsson etwas zur Aufführung brachte, was sonst vielleicht in den niederen Spielklassen zwischen Kreis- und Verbandsliga passiert, aber nicht bei einer Weltmeisterschaft. Abgesehen vom Torhüter und den beiden Außen tauschte Sigurdsson bei eigenem Ballbesitz gleich vier Spieler aus, deren Vorzüge primär in der Verteidigung des eigenen Tores liegen. Dafür brachte er offensivstarke Spieler. „Ich war genau so überrascht wie die meisten anderen in der Halle. Aber wenn der Chef das so will, dann machen wir das so“, sagte Haase später mit einem Augenzwinkern.
Bislang sind die taktischen Tüfteleien des Chefs größtenteils aufgegangen. Sigurdssons Mannschaft benötigte nicht mal alle fünf Gruppenspiele, um in das Achtelfinale einzuziehen und damit das vor dem Turnier ausgegebene Minimalziel zu erreichen. Bei einem Sieg gegen die bislang punktlose Auswahl Saudi-Arabiens am Samstag gehen die Deutschen sogar als bestes Team der Gruppe D in die K.o.-Phase des Turniers.
Woher bezieht dieses deutlich verjüngte Team, dem vor der WM nicht sonderlich viel zugetraut worden war, seine Stärke? „Unser größter Pluspunkt bisher war die Variabilität in den einzelnen Mannschaftsteilen“, sagt Spielmacher Martin Strobel, „wir haben so viele unterschiedliche Formationen gespielt, dass wir für den Gegner schwer auszurechnen waren und den Überraschungseffekt oft auf unserer Seite hatten.“
Sigurdsson hat seinem Ruf als innovativer Coach schon jetzt alle Ehre gemacht
Aus genau diesem Grund haben sich die Entscheidungsträger beim Deutschen Handball-Bund (DHB) ja vor einem halben Jahr für Sigurdsson ausgesprochen. Der Isländer sollte die Nationalmannschaft nach entbehrungsreichen Jahren unter taktischen Aspekten auf ein neues und zeitgemäßes Niveau heben und mit ungeschriebenen Gesetzen wie etwa der über Jahrzehnte etablierten 6-0-Defensive brechen.
Unabhängig vom Ausgang der WM hat Sigurdsson seinem Ruf als innovativer Coach schon jetzt alle Ehre gemacht. „Man darf nicht vergessen, dass zu solch elementaren Veränderungen immer auch ein gewisser Mut gehört“, sagt Strobel. „Dagur war vom ersten Tag an ruhig und selbstbewusst, das hat sich immer mehr auf die Mannschaft übertragen“, sagt Torhüter Carsten Lichtlein, der mit 34 Jahren älteste und erfahrenste Spieler im deutschen Team.