Hertha BSC: Das ist Abstiegskampf
Hertha BSC erfährt beim 2:2 gegen Schalke, wie eng Freud und Leid beieinander liegen. Ein Vorgeschmack auf das, was die Berliner Spieler in den kommenden Wochen erwarten könnte.
Nach menschlichem Ermessen war in der 83. Minute endgültig klar, dass Hertha BSC dieses Spiel gewinnen würde. Es war der Moment, in dem Schalkes Innenverteidiger Joel Matip den Ball aus unerfindlichen Gründen in die Arme von Herthas Torhüter Thomas Kraft stümperte, anstatt ihn aus 1,28 Metern über die Linie zu drücken. Wer solche Chancen des Gegners unbeschadet übersteht, hat vermutlich den Zustand der Unverwundbarkeit erlangt – es sei denn, man steckt im Abstiegskampf. Sieben Minuten später, zehn Sekunden vor Ablauf der regulären Spielzeit, holte Matip das Versäumte doch noch nach. Per Kopf erzielte er den Treffer zum 2:2-Endstand. „Offensichtlich gibt es da oben einen lieben Gott, der zuschaut und Dinge gesehen hat, die nicht in Ordnung waren“, sagte Herthas Innenverteidiger Sebastian Langkamp.
Das ist Abstiegskampf. Manches lässt sich nicht erklären beziehungsweise nur mit dem Rückgriff auf höhere Mächte.
Die Berliner haben am Samstag einen Vorgeschmack erhalten, was sie in den kommenden Wochen noch erwarten könnte. Bis zehn Sekunden vor dem Ende sah Hertha wie der große Gewinner des Spieltags aus. Die Mannschaft führte 2:1 gegen den Champions-League-Aspiranten Schalke 04. Und was noch wichtiger war: Fast die gesamte Konkurrenz, die bis zum Nachmittag im Einsatz war, ging leer aus: Stuttgart, Paderborn, HSV – alle verloren. „Wir hätten einen brutalen Schritt machen können“, sagte Mittelfeldspieler Peter Niemeyer. Aber auch das ist Abstiegskampf: Wenn du glaubst, alles wird gut, kommt jemand und wirft dir doch wieder einen Knüppel zwischen die Beine.
Ein Sieg gegen Schalke wäre auch ein Signal an die Konkurrenz gewesen
„Der Frust ist ein bisschen größer als die Freude, dass wir gegen eine gute Mannschaft ein gutes Spiel gemacht haben“, sagte Verteidiger Langkamp. „Das bittere Gefühl überwiegt.“ Dabei gibt es bei Hertha inzwischen mehr als nur positive Ansätze. Die Mannschaft spielt zwar immer noch keinen berauschenden Fußball, aber sie hat sich deutlich stabilisiert und ist seit nunmehr drei Spielen ungeschlagen, was ihr zum ersten Mal überhaupt in dieser Saison gelungen ist. „Bei einem Sieg wären wir auf einem sehr guten Weg gewesen“, sagte Langkamp, „so sind wir nur auf einem guten Weg.“ Trotzdem bleibt nach dem Unentschieden gegen die Schalker das Gefühl einer verpassten Chance. Ein Sieg, mit dem im Voraus niemand gerechnet hatte, „das wäre ein Riesenerlebnis gewesen“, sagte Langkamp. Es wäre auch ein Signal an die Konkurrenz gewesen: Wir sind dann mal weg.
Aber der Abstiegskampf verläuft in den seltensten Fällen linear wie zuletzt bei den Bremern, die sich mit fünf Siegen hintereinander vom letzten Tabellenplatz so weit nach oben gearbeitet haben, dass sie in dieser Saison wohl nicht mehr in Gefahr geraten werden. Normalerweise geht es auf und nieder, manchmal sogar, wie am Samstag in Berlin, innerhalb eines einzigen Spiels. Nach dem 2:1 durch den eingewechselten Genki Haraguchi durfte sich Hertha für zehn Minuten wie der große Sieger fühlen. Aber auf Freud folgt Leid – und umgekehrt. Das heißt, dass selbst für den taumelnden Tabellenletzten Stuttgart längst nicht alles verloren ist. Es heißt aber auch, dass sich Hertha dem erfreulichen Trend zum Trotz noch nicht zu sicher fühlen darf.
In Saisonphasen wie diesen fangen die Fans an, wild hin und her zu rechnen. Sie stellen Hypothesen auf, wie viele Punkte zum Klassenerhalt reichen werden, spielen die fehlenden Begegnungen am Computer durch und lassen sich eine virtuelle Abschlusstabelle erstellen. „Fans dürfen das“, sagt Herthas Co-Trainer Rainer Widmayer, aber die Beteiligten selbst sollten sich auf solche Rechnungen nicht einlassen – weil die Kalkulationen von Wahrscheinlichkeiten ausgehen. Aber was ist im Abstiegskampf schon wahrscheinlich? Im Abstiegskampf herrscht der Irrationalis. Da gewinnt die Konkurrenz plötzlich ein Spiel, das sie auf dem Papier nie hätte gewinnen dürfen. „Es wäre gut, wenn uns das auch mal gelänge“, sagt Widmayer.
Am Samstag gegen Schalke war Hertha kurz davor.