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Der Bundestrainer der Schwimmer, Henning Lambertz, in Rio.
© dpa/ Michael Kappeler

Debakel der deutschen Schwimmer: „Dann senken wir die Norm ins Bodenlose“

Nach dem schon traditionell schwachen Abschneiden der deutschen Schwimmer beginnt die Aufarbeitung. Bundestrainer Lambertz holt zum Rundumschlag aus.

Als Henning Lambertz auf Vorwärtsverteidigung umschaltete, wurde im Olympic Aquatic Stadion wieder einmal die amerikanische Nationalhymne zum Besten gegeben. Oben in der Schwimmhalle feierten die US-Fans ihre nächste Medaille, unten in den Katakomben stand der eloquente Chef-Bundestrainer im doppelten Sinne mit dem Rücken zur Wand. Metaphorisch, weil die Delegation des Deutschen Schwimm-Verbands (DSV) wie schon vor vier Jahren in London wohl auch in Rio de Janeiro ohne jede Medaille bleiben wird. Und wortwörtlich, weil Lambertz von Reportern umringt war, die einen engen Halbkreis um den 45-Jährigen geschlossen hatten und ihm einige unangenehme Fragen stellten.

„Auch ich muss mich hinterfragen und will die Schuld auf keinen Fall von mir weisen“, sagte Lambertz. Und tat dann doch genau das, allerdings auf strategisch kluge und pointierte Art und Weise. Nach dem Olympiadebakel von London hatte der Essener den Posten des Chef-Bundestrainers übernommen, er versuchte viel Neues – um dann doch bei einem altbekannten Ergebnis herauszukommen. Natürlich sei nun abermals ein Kurswechsel nötig, gab Lambertz zu. „Aber wir dürfen nicht ganz klein anfangen, bei den Trainern, den Vereinen, den Schwimmern“, sagte der Trainer, dessen eigentlich schon feststehende Vertragsverlängerung bis Tokio 2020 nun wieder auf der Kippe steht. „Wir müssen ganz bis nach oben schauen.“

"Die Medaillen liegen da auf dem Silbertablett"

Drei Finalabende der Beckenschwimmer inklusive der Endläufe in der Nacht zu Freitag standen zwar noch aus, als Lambertz zum Rundumschlag ansetzte. Mit einer Medaille konnte der DSV aber nicht mehr wirklich rechnen. Auch die größte Hoffnung hatte sich am Mittwochabend in Wasser aufgelöst: Weltmeister Marco Koch wurde über 200 Meter Brust nur enttäuschender Siebter. Henning Lambertz hatte Koch und den anderen beiden deutschen Topschwimmern Paul Biedermann und Franziska Hentke viele Freiheiten gegeben, die drei Mitglieder des sogenannten „Elite-Teams“ konnten ihre Olympia-Vorbereitung nach den Wünschen ihrer Heimtrainer gestalten. „Vielleicht war das falsch“, sagte Lambertz. „Im Nachhinein würde ich sagen, ich hätte an vielen Stellen mehr eingreifen können, sollen, müssen.“

Koch und sein Trainer Alexander Kreisel hätten laut Lambertz beispielsweise größere Umfänge im Training absolvieren müssen, „da ist ein bisschen was verpasst worden“. Dabei seien die Medaillengewinner nicht nur in Kochs Endlauf in Reichweite gewesen. „Die Zeiten sind keine Lichtjahre entfernt“, sagte Lambertz. „Die Medaillen liegen da auf dem Silbertablett – aber wir wollen sie nicht haben, wir greifen nicht zu.“ Für Alexander Kreisel lag die Erklärung für Kochs Leistung eher im mentalen Bereich: Auf der zweiten der insgesamt vier Bahnen hätte der Brustschwimmer mutiger, druckvoller und mit einer höheren Frequenz unterwegs sein müssen. Abgesprochen seien 14 Züge gewesen, Koch habe nur 13 gemacht.

"Alle Trainer zerreißen sich"

Während sich der tief betrübte Kreisel noch mit taktischen Feinheiten beschäftigte, hatte Lambertz das große Ganze im Blick. „Es ist immer wieder das gleiche Thema: Wir haben kaum Möglichkeiten, kaum Potenziale“, sagte er. „Das fängt bei der Manpower an und hört beim Geld auf. Wir sind viel zu wenige und haben viel zu wenig.“ In Rio seien nur vier Trainer für 27 deutsche Beckenschwimmer im Einsatz, dieses Verhältnis könne nicht funktionieren: „Alle Trainer zerreißen sich, die können nicht mehr leisten. Aber es ist einfach zu viel, was man denen überstülpt.“ Das von der Zahl der Schwimmer ähnlich große britische Team sei personell und finanziell viel besser aufgestellt. Adam Peaty, der über 100 Meter Brust mit Weltrekord zu Gold geschwommen war, habe beispielsweise drei Monate in Australien trainiert. In Deutschland sei so etwas nur möglich, „wenn Mama und Papa das bezahlen“.

Natürlich könne man nun „auf jedem einzelnen rumhacken“ und fordern, dass Köpfe rollen. „Aber das ändert das System nicht“, sagte Rolle. „Es spielt keine Rolle, ob da Müller, Meier, Schmitz steht. Das System muss sich ändern. Sonst sind wir im Leistungssport einfach nicht mehr existent.“ Alle Beteiligten – DSV, Deutscher Olympischer Sportbund (DOSB) und Bundesinnenministerium (BMI) – müssten sich an einen Tisch setzen, um über Strukturen und Fördermittel zu sprechen. Der DSV steht ebenfalls vor einem Umbruch: Nach 16 Jahren als Präsidentin muss Christa Thiel im Herbst um ihre Wiederwahl kämpfen.

Mit mehr Geld ist nicht zu rechnen

Mit mehr Geld kann Henning Lambertz, sollte er Chef-Bundestrainer bleiben, kaum rechnen. Das deutsche Sportsystem funktioniert anders: Wer die Erwartungen nicht erfüllt, bekommt weniger Geld. DOSB und BMI hatten zwei bis vier Medaillen im Becken und eine bei den noch ausstehenden Freiwasserwettbewerben in Rio erwartet, diese Vorgabe konnte der DSV nicht erfüllen. Für den Fall, dass seine Mittel noch weiter reduziert werden, malte Henning Lambertz ein rabenschwarzes Bild. „Dann können wir den Sack zumachen und sagen: Das war’s mit dem Schwimmen“, sagte Lambertz. „Dann reden wir wirklich über den olympischen Gedanken: Dabei sein ist alles. Dann senken wir die Norm ins Bodenlose ab und freuen uns: Haha, wir sind dabei.“

So oder so: Es wird wohl sehr lange dauern, bis irgendjemandem im deutschen Schwimmen wieder nach Lachen zumute ist.

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