Handball-WM in Frankreich: Dagur Sigurdsson: Unberechenbar bis zum Schluss
Die Weltmeisterschaft in Frankreich ist die letzte mit Handball-Bundestrainer Dagur Sigurdsson. Dank des Isländers kann das deutsche Team wieder um den Titel mitspielen.
Im Januar 2016 machen Dagur Sigurdsson und Alexander Haase eine Bestandsaufnahme. Vor der Handball-Europameisterschaft sitzen der deutsche Bundestrainer und sein Assistent zusammen, sie besprechen taktische Pläne und bewerten auf dem Papier noch einmal den berufenen Kader, Position für Position. „Wir waren uns relativ schnell einig: Mit dieser Truppe ist das Halbfinale machbar“, erinnert sich Haase. Nur können und wollen sie das damals nicht so offensiv kommunizieren. Schließlich soll niemand die Deutschen für verrückt erklären, die zuvor neun Jahre nichts gewonnen haben im Welthandball.
„Seitdem haben uns die Ereignisse überholt, alles ist anders“, sagt Haase jetzt, zwölf Monate später. Wenn am Mittwoch die Weltmeisterschaft beginnt, die am 29. Januar in Paris ihren Sieger finden wird, zählt Deutschland zum erklärten Mitfavoriten neben Gastgeber Frankreich und Olympiasieger Dänemark. Obwohl erneut viele Spieler verletzt oder überbelastet fehlen, geht der Europameister die Aufgabe äußerst selbstbewusst an, Torhüter Andreas Wolff etwa hat nicht weniger als den Titel zum Ziel erklärt. Seitdem klar ist, dass die WM in Frankreich das letzte große Turnier für Sigurdsson vor seinem Wechsel nach Japan sein wird, schweben allerdings auch einige Fragezeichen über der deutschen Mannschaft: Wird der nahende Abschied des Erfolgstrainers das Team belasten? Oder gar zusätzlich motivieren? Und überhaupt: Was bleibt, abgesehen von einer herausragenden Bilanz, von der Ära Sigurdsson?
Es gibt nicht viele Menschen, die das besser beantworten können als Alexander Haase. Bevor Sigurdsson ihn zum Nationalteam holte, hatte der Potsdamer bereits vier Jahre als Co-Trainer der Füchse Berlin an der Seite des Isländers verbracht. Gemeinsam saßen sie Tausende Kilometer in Bussen und Flugzeugen, haben stundenlang Videos angeschaut, Hunderte Gegner seziert und auch mal über andere Sachen gesprochen als nur Handball, man kennt und schätzt sich. Haase sagt also: „Dagur ist in seiner Ansprache einfach überragend. Er hat uns das Selbstvertrauen zurückgebracht, dass wir immer um eine Medaille mitspielen können. Damit war vor zwei Jahren nicht zu rechnen. Das ist sein größter Verdienst.“
Manche Experten sehen im herausragenden Jahr 2016 mit EM-Titel und Olympia-Bronze ohnehin nur die Initialzündung für das, was das deutsche Team in den nächsten Jahren womöglich noch erreichen kann und soll, unabhängig vom Namen des neuen Bundestrainers. „Wir haben einen Stamm von über 20 Spielern, der zusammengewachsen und trotzdem noch sehr jung ist“, sagt Haase, „deshalb bin ich guter Dinge, dass mit dieser Mannschaft auch in Zukunft zu rechnen ist.“ In der Führungsspitze des Deutschen Handball-Bundes (DHB) sieht man das, bei aller Dankbarkeit für Sigurdssons Arbeit, ähnlich optimistisch. „Dagur hat die Eisenbahn wieder auf die Gleise gesetzt, jetzt müssen wir einen neuen Zugführer finden“, sagt Vizepräsident Bob Hanning. Mittlerweile hat sich auch die öffentliche Aufregung einigermaßen gelegt.
Als Sigurdsson Ende November seinen Rücktritt nach der WM und seinen Wechsel nach Japan bestätigte, schwankten die Reaktionen zwischen allgemeinem Erstaunen und Empörung: Warum Japan? Wie kann er nur? Sportlich kam die Entscheidung einem Wechsel vom FC Bayern zu Darmstadt 98 gleich, und so wurde der Bundestrainer in den Tagen und Wochen danach zum ersten Mal in zweieinhalb Jahren Amtszeit öffentlich kritisiert. In einem Interview mit dem Fachmagazin „Handball Inside“ schlug etwa Andreas Thiel eine harte Tonart an. Der Einfluss eines Trainers werde im Spitzenbereich gemeinhin überschätzt, wetterte die Torhüter-Legende, Sigurdsson habe nicht zuletzt von den Strukturreformen im Verband profitiert, sein Weggang sei „kein Verlust, noch nicht mal ansatzweise“. Denn: „Jeder Trainer, der einen Arsch in der Hose hat, wird mit diesem Team an Medaillen kratzen.“ Sigurdsson reagierte mit der Gelassenheit eines Isländers und saß die Debatte mit dem Vermerk auf persönliche Beweggründe schweigend aus.
Bei seiner Mannschaft genießt Sigurdsson weiterhin hohes Ansehen
Bei seiner Mannschaft, das steht außer Frage, genießt der 41-Jährige weiterhin hohes Ansehen, und das liegt nicht nur an den jüngsten Erfolgen. „Dagur überträgt den Spielern ein hohes Maß an Eigenverantwortung, dafür räumt er ihnen auch viele Freiheiten ein“, sagt Haase. Sigurdssons Trainingseinheiten sind stets stramm und durchgetaktet, aber eben auch immer: komprimiert, auf maximal 90 Minuten. Regenerations- und Erholungsphasen betrachtet der Isländer als nicht weniger wichtig und zielführend, und bei der Freizeitgestaltung lässt er die Leine während eines Turniers auch vergleichsweise locker – immer unter der Voraussetzung, dass alle ordnungsgemäß ihre Hausaufgaben machen.
Dazu zählt besonders die taktische Vor- und Nachbesprechung – ein wichtiges, aber bisweilen auch belastendes Thema bei idealerweise neun WM-Spielen binnen 16 Tagen. Wo liegt der wunde Punkt in des Gegners Abwehr? Wie bewegt sich der Kreisläufer, wo parkt er am liebsten? Und worauf müssen die Torhüter Acht geben? Angesichts der Datenflut auf internationalem Top-Niveau gehe es vor allem darum, die richtige Mischung zu finden, sagt Haase. „Die Spieler sollen gut informiert und vorbereitet sein, aber man darf sie auch nicht überfordern. Darin war Dagur immer stark.“
Passend zu seinem jungen Team setzt der Isländer auf zeitgemäße Methoden. Seit Jahren nutzt er dafür das Computer-Programm „Sideline“, mit dem sich kurze Video-Clips über den nächsten Gegner erstellen lassen, ganz individuell, Position für Position. Die Zusammenschnitte können sich die Nationalspieler dann auf ihren Smartphones ansehen. Im Hotelzimmer, auf der Massagebank oder wo auch immer. Und wenn mal wieder ein am Tablet entworfener Plan aufgeht, ist sich Sigurdsson auch nicht zu schade, den Ruhm zu teilen und seine Co-Trainer öffentlich für ihre Vorarbeit zu loben.
Unter taktischen Aspekten hat der scheidende Bundestrainer das Nationalteam zweifellos auf ein neues Niveau gehoben, weil er selbst in der vergleichsweise kurzen Amtszeit von zweieinhalb Jahren stets mit der Zeit gegangen ist. Als der Weltverband IHF pünktlich zu Olympia neue (und höchst umstrittene) Regeln diktierte, unter anderem den dauerhaften Einsatz eines siebten Feldspielers, war die internationale Kritik – man könnte auch sagen: das Gejammer – groß. Sigurdsson stimmte nicht in den Chor ein, stattdessen setzte er die Regel so exzessiv ein wie kein anderer Nationaltrainer – eine der Schlüsselentscheidungen, die zu Bronze in Rio führen sollten.
Zudem brach Sigurdsson das ungeschriebene Gesetz, dass eine deutsche Nationalmannschaft, wie seit Angedenken des Hallen-Handballs üblich, in einer 6-0-Abwehrformation das Feld betritt und diese auch dauerhaft beibehält. Mittlerweile sind Systemwechsel mitten im Spiel selbstverständlich und bewährtes Mittel im Sinne der Unberechenbarkeit.
Im Moment ist die Abwehr allerdings noch so etwas wie das Sorgenkind im deutschen Team, abgesehen vielleicht vom Torhütergespann Andreas Wolff/Silvio Heinevetter . „In diesem Bereich müssen wir zulegen. Wir hatten bisher auch nur wenige gemeinsame Einheiten“, sagt Haase, „aber ich bin optimistisch, dass das im Turnierverlauf besser wird.“ Welche Feinheiten und Finessen sie diesmal ausgebrütet haben, will der Co-Trainer naheliegenderweise nicht im Detail erläutern.
Dafür hat Bundestrainer Sigurdsson kürzlich einen Einblick in die Vorbereitung auf sein letztes Turnier gewährt. „Diese WM ist eine ganz neue Situation“, sagte Sigurdsson. Von den Taktiken und Spielzügen des Jahres 2016 würden deshalb nicht viele den Sprung ins Jahr 2017 schaffen. „Ich fange mit einem weißen Blatt Papier an“, ergänzte er vielsagend.
Wohin das führen kann, wissen Deutschlands Handballer nur zu gut. Die EM in Polen vor einem Jahr begann Sigurdsson ebenfalls mit einem weißen Blatt, auf dem er die wichtigsten Notizen und Systeme vermerkte. Nach dem Finalsieg von Krakau twitterte Sigurdsson den kultigen Notizzettel, ehe dieser – so hat es der Bundestrainer später erzählt – beinahe versehentlich in der Waschmaschine gelandet wäre. Heute hängt das gute Stück als Dauerexponat im Deutschen Sport- und Olympiamuseum Köln – als Andenken an den zweiten Europameister-Titel der deutschen Handball-Geschichte. Und natürlich als Erinnerung an Dagur Sigurdsson.