Serie "Mein Sport und ich" (2): "Da habe ich ihr einen Vogel gezeigt"
Lisa Unruh wollte Olympiasiegerin im Schwimmen werden. Stattdessen begann sie mit Bogenschießen. An dieser Stelle schreibt die 31-Jährige, wie sie zu einer der besten in ihrer Sportart geworden ist.
Sport bedeutet Leidenschaft, harte Arbeit – und Verzicht. In unserer Serie erzählen Athleten ganz persönlich, wie viel Kraft das kostet und was sie für ihre Sportart auf sich nehmen. Lisa Unruh hat ihren bisher größten Erfolg bei Olympia 2016 in Rio gefeiert. Dort holte sie Silber. Ab Dienstag steht für sie der Weltcup in Berlin an.
Bei uns Bogenschützen gilt das Motto: Schießen kann man nur vom Schießen! Deshalb schieße ich sehr, sehr viel: sechs Stunden am Tag, sechsmal pro Woche. Dabei geht es mir aber nicht darum, nur mit meinem Bogen die Pfeile rumzuballern, das bringt nichts. Für mich ist im Training vor allem die Qualität der Schüsse wichtig. Ich will nicht im Wettkampf schießen wie im Training, ich will im Training schießen wie im Wettkampf. Das erfordert ständig hohe Konzentration und ist kräftezehrend, aber ich will selber den Bogen führen und mich nicht von ihm beherrschen lassen.
Wenn ich dann ganz bewusst schieße, meine Technik stimmt und der Rhythmus perfekt ist, dann komme ich in einen Flow. Ich kann mich dahintreiben lassen bei jedem Schuss. Das Gefühl dabei ist schwer zu beschreiben, es ist wie ein entspannter Waldspaziergang mit toller Luft – ich bin absolut im Frieden.
Dabei bin ich nur über Umwege zum Bogenschießen gekommen. Eigentlich wollte ich Schwimm-Olympiasiegerin werden und in der fünften Klasse bin ich auch auf die Sportschule in Hohenschönhausen gekommen. Doch im Schwimmen hatte ich schon ein Jahr später nicht mehr die Erfolgsperspektive. Meine Mama hat sich schlau gemacht, welcher andere Sport gut für mich wäre, und auch die Schwimmtrainer sagten ihr: Die Bogenschützen suchen Leute. Da habe ich ihr einen Vogel gezeigt und geantwortet: Ich möchte eine richtige Sportart machen.
Ich habe das Bogenschießen damals absolut unterschätzt. Schließlich habe ich es aber versucht – und es hat mir gleich so viel Spaß gemacht. Ich durfte schon nach eineinhalb Wochen schießen, sonst muss man lange Trockenübungen mit dem Theraband machen. Aber ich hatte eine gute Koordination und Kraft. Das Schwimmen habe ich schnell vergessen.
Bogenschießen unterscheidet sich krass vom Schwimmen – man hat sofort eine Rückmeldung, wenn man sieht, wo der Pfeil hingegangen ist. Das war für mich das Faszinierende. Und ich musste noch etwas anderes lernen und akzeptieren. Wenn es beim Bogenschießen nicht läuft, kann ich nicht sagen: Jetzt lege ich die komplette Energie meines Körpers rein und raste förmlich aus. Man darf kurz die Emotionen rauslassen und fluchen, muss dann aber fokussiert weitermachen.
Schlüsselmoment Junioren-WM
Ein Schlüsselmoment war die Junioren-WM drei Jahre später. Dort bin ich Dritte im Einzel geworden und Zweite im Team. Dieser Wettkampf hat mir gezeigt: Da geht noch einiges. Danach habe ich das Bogenschießen mit noch mehr Leidenschaft betrieben.
Diese Leidenschaft braucht man auch, wenn es um Bereiche geht, in denen ich mich quälen muss: etwa beim Bogenkrafttraining. Dabei hält man die Pfeile bewusst sehr lange im Vollauszug im Bogen. Irgendwann zittert man natürlich und die Schultern tun weh. Das ist ein notwendiges Übel, das nicht unbedingt meine Leidenschaft ist. Dann schon lieber Athletiktraining, was ich auch sechsmal pro Woche absolviere.
Wichtig sind für mich aber auch Yoga, Meditieren und ideomotorisches Training. Dabei stelle ich mir den Schuss und die Umgebung vor meinem inneren Auge vor. Vor dem größten Erfolg meiner Karriere, dem Gewinn der Silbermedaille bei Olympia in Rio de Janeiro, hat es mir extrem geholfen, dass ich im Jahr zuvor beim Testwettkampf in Brasilien war. Daher wusste ich genau, wie die Farben und die Tribüne aussehen. Die Schüsse konnte ich mir so schon vorher immer super vorstellen.
Rio wurde für mich zur puren Glückseligkeit. Denn vorher hatte ich den absoluten Psychoterror erlebt. Ich musste mich in der internen Olympia-Qualifikation gegen drei deutsche Teamkolleginnen um den einen Olympia-Startplatz durchsetzen. Als ich das geschafft hatte, war ich für die Spiele eigentlich müde im Kopf. Hinzu kam, dass ich vor Ort auf dem Trainingsplatz völlig unzufrieden mit meiner Technik war. Aber als es in die Matches reinging, war ich richtig gut. Ich konnte mich super auf mich konzentrieren, es lief perfekt. Und dann wurde mein Traum wahr. Als ich am Abend nach dem Silbergewinn nachts zurück auf mein Zimmer kam, holte ich meine Medaille raus, schaute sie an und musste erst mal weinen. Erst dann hatte ich es wirklich realisiert: Ja, das ist meine!
Umso mehr freue ich mich, dass wir uns den Mannschafts-Quotenplatz für die Olympischen Spiele in Tokio 2020 geholt haben. Ansonsten läuft es in diesem Jahr für mich nicht. Ich habe meine Technik umgestellt, nun lasse ich den Bogen nicht mehr nach rechts kippen. Ich brauche einfach noch ein paar tausend Schuss, um wieder sicherer zu werden. Aber mein Selbstvertrauen wächst. Daher bin ich optimistisch für den Weltcup in Berlin, schließlich will ich in meiner Heimatstadt zeigen, was ich kann.
Aufgezeichnet von Johannes Nedo. Bisher erschienen: Langstreckenlauf (Jan Fitschen).
Lisa Unruh
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