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Intuition gegen Berechnung. Der norwegische Titelverteidiger Magnus Carlsen (links) geht die Duelle mit Gefühl an, während Kontrahent Fabiano Caruana aus den USA genau kalkuliert.
© Ben Stansall, AFP

Schach-WM: Carlsen vs. Caruana - wer den vorletzten Fehler macht, gewinnt

Schach-WM in London zwischen Magnus Carlsen und Fabiano Caruana: Bisher wurde viermal Remis gespielt. Langweilig? Im Gegenteil. Die Spannung steigt.

Es ist alles im Kopf, nirgendwo anders. Die Züge, die Varianten, die Strategien – aber auch die Angst, der Siegeswille, die Spielfreude. Berechnungskunst, Intuition und psychische Kraft, diese drei Faktoren entscheiden, wer der nächste Schachweltmeister ist. Kann Magnus Carlsen, der den Titel bereits zum vierten Mal verteidigt, erneut triumphieren? Oder zieht der Amerikaner Fabiano Caruana an ihm vorbei? Die Schachwelt ist sich einig: In London findet in diesen Tagen der Kampf der Titanen statt.

Die Konkurrenten sind nicht nur unbestritten die gegenwärtig besten Spieler der Welt, sie sind auch fast gleich alt und gleich stark. Auf der Elo-Rangliste, die die Stärke von Schachspielern aus Turnier-Ergebnissen ermittelt, hat sich Caruana bis auf drei Wertungspunkte an Carlsen herangeschoben. Es steht 2835 zu 2832. In der Tendenz wird Caruana immer stärker, während Carlsen gelegentlich schwächelt. Ginge es nur nach der Form, wäre Caruana leicht im Vorteil.

Aber es geht um mehr. Vier Partien wurden bislang gespielt, und alle endeten Remis. Von außen sieht das unspektakulär, ja langweilig aus. Von wegen! Gleich die erste Partie hätte Carlsen gewinnen müssen. Doch er verpasste mehrere Chancen, ließ Caruana sich befreien, versuchte noch, ihn im Turm-Endspiel zu quälen und willigte erst nach sieben Stunden in das Unentschieden ein. Die Nerven. Wie wirkt sich eine solche Partie aus? Dominiert der Ärger über den verpatzten Sieg – oder der Wille, es beim nächsten Mal besser zu machen? Das Hinter- sich-lassen-können und Nach-vorne- schauen ist besonders in Zweikämpfen eine Kardinaltugend.

Carlsen ist der Intuitive

Ereignisärmer verliefen die zweite, dritte und vierte Partie. Vor- und Umsicht allein werden für den Erfolg allerdings nicht ausreichen. Nur auf Fehler des Gegners zu warten ist als Strategie sowohl für den Titelverteidiger als auch für den Herausforderer zu minimalistisch. Irgendwann muss der Moment kommen, in dem ein Wagnis eingegangen wird. Die Frage ist bloß: Wer fängt damit an? Je öfter eine Partie Remis ausgeht, desto schwerer wiegt jeder Sieg und jede Niederlage.

Gespielt werden maximal zwölf reguläre Partien. Der Gewinner erhält einen Punkt, der Verlierer keinen, beim Unentschieden bekommt jeder einen halben Punkt. Um Weltmeister zu werden, benötigt ein Spieler 6,5 Punkte. Die Bedenkzeit beträgt hundert Minuten für die ersten vierzig Züge, dann fünfzig Minuten für die nächsten zwanzig und 15 Minuten für den Rest der Partie. Pro Zug gibt es eine Zeitgutschrift von dreißig Sekunden. Remis darf erst nach dem 30. Zug von Schwarz angeboten werden. Falls es nach zwölf Runden unentschieden steht, entscheidet ein Tie-Break. Dazu gehören vier Schnellschachpartien und bis zu vier Blitzpartien.

Carlsen ist der Intuitive. Schon früh wurde er der „Mozart des Schachs“ genannt. Das heißt, sein Spiel ist leicht, harmonisch, virtuos. Außerdem ist er körperlich fit und extrem konditionsstark. Auch nach fünf Stunden kann er sich noch hervorragend konzentrieren, Endspiele sind seine Stärke. Carlsen sei nicht wie ein Tiger, der sein Opfer mit ein paar kräftigen Schlägen erlegt, sondern wie eine Boa constrictor, die es langsam erwürgt, sagte einmal Carlsens ehemaliger Lehrmeister, Ex-Schachweltmeister Garri Kasparow.

Bislang hat sich keiner eine Blöße gegeben

Caruana dagegen ist der Rechner. Er durchdringt die Stellungen, hat eine unglaubliche Konzentrationsfähigkeit, ist nervenstark, überrascht seine Gegner gerne schon in der Eröffnung, sucht in jeder Situation nach dem besten Zug. Er übernimmt oft die Initiative, ist im Angriff überzeugender als in der Verteidigung. Carlsen war mit 13 Jahren der jüngste Großmeister und mit 19 Jahren der jüngste Weltranglistenerste der Geschichte. Caruanas Aufstieg verlief etwas weniger steil. Er war mit 14 Jahren Großmeister und ist mit 26 Jahren anderthalb Jahre jünger als Carlsen. Im März dieses Jahres gelang ihm sein bisher größter Erfolg: Er gewann das Kandidatenturnier in Berlin und qualifizierte sich dadurch für das WM-Duell. Er ist der erste Amerikaner seit Bobby Fischer, der um diesen Titel kämpft.

Wer ist der Favorit? Bislang hat sich keiner der beiden eine Blöße gegeben. Für Carlsen spricht die Erfahrung. Für Caruana spricht sein Formhoch in diesem Jahr. Mitentscheidend für den Erfolg dürften aber auch die Sekundanten sein. Das sind die Freunde, Trainer und Tüftler im Hintergrund der Spieler. Sie analysieren die Partien, denken sich Neuerungen aus, mit denen sie den jeweiligen Kontrahenten zu überraschen versuchen. Sie arbeiten abgeschirmt von der Öffentlichkeit aus Angst vor Hackern und Spionage. Denn manchmal gewinnt man eine Partie nicht mit dem besten Zug, sondern mit einem, den der Gegner nicht erwartet hat. Es ist eben alles im Kopf.

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