Herthas Pokalgegner FC St Pauli: Andreas Rettig: "Wir sind ein politischer Klub"
St. Paulis Geschäftsführer Andreas Rettig spricht vorm Pokalspiel über die Stärke des Gegners Hertha BSC und erklärt, warum Politik und Fußball zusammengehören.
Herr Rettig, Sie sind erst seit etwas mehr als einem Jahr Geschäftsführer beim FC St. Pauli. Bekommen Sie trotzdem alle Gegner mit B aus der legendären Pokalsaison 2005/06 zusammen?
Das Berliner B ist mir auf jeden Fall noch präsent. Ich glaube, Bochum war auch dabei. Und das dritte B …
… das Schneespiel …
… ja, klar, richtig: Bremen.
Es gab sogar noch einen vierten Gegner mit B: Burghausen.
Okay, das wusste ich nicht. Aber generell ist diese Pokalsaison hier immer noch sehr präsent. Es gibt auch immer wieder Abende, an denen man die Spiele noch einmal Revue passieren lässt – und die Siege noch mal feiert.
Was lässt Sie eher zweifeln, dass sich die Geschichte wiederholt: die Stärke von Hertha BSC oder die Schwäche des FC St. Pauli?
So schwach, wie wir im Moment in der Tabelle dastehen, sind wir gar nicht. Wir haben oft ordentlich gespielt, uns nur leider nicht belohnt. Die tolle bisherige Saison von Hertha, die wir auch hier in Hamburg verfolgen, ist schon großartig. Hut ab.
Kommt das dem FC St. Pauli entgegen, der sich ohnehin als Underdog versteht?
Das glaube ich schon. Die Rolle, aus einer Außenseitersituation heraus mal für eine Überraschung zu sorgen, ist sicherlich komfortabler, als wenn du als großer Favorit in so ein Spiel gehst. Aber es geht nicht darum, dass wir uns in der Rolle des Underdogs gefallen. Weiterkommen wäre schon nicht schlecht.
Im vergangenen Jahr ist die Mannschaft Vierter geworden. Hat das die Leute von mehr träumen lassen?
Die, die hier in der Verantwortung stehen, sind keine Träumer. Wir haben im Sommer wichtige Spieler verloren und waren in der letzten Saison auch nicht ganz so gut, wie es der Tabellenplatz aussagt. Und auf dieses Stammtischgerede „Letztes Jahr wart ihr Vierter, ihr wollt euch doch bestimmt verbessern“ haben wir uns nicht eingelassen. Wir wissen genau, wie schwer die Zweite Liga ist. Da entscheiden Kleinigkeiten, und momentan fällt das Wurstbrot bei uns leider immer auf die falsche Seite. Das Schöne ist, dass wir uns hier nicht treiben lassen. Wir wissen, woran es liegt. Deswegen wird bei uns keiner hektisch.
Gehen auch die Fans gelassener mit der Situation um als bei anderen Vereinen?
Auch der St.-Pauli-Fan will Spiele gewinnen. Aber er hat eben verinnerlicht, dass es neben dem sportlichen Erfolg noch ein paar andere Themen gibt, für die wir einstehen. Unsere Haltung hängt nicht vom Tabellenplatz ab. Aber wir können Botschaften besser transportieren und für Dinge eintreten, wenn wir in der Zweiten Liga spielen. Weil wir viel mehr Aufmerksamkeit bekommen als ein Drittligist.
Sie haben bei Ihrem Amtsantritt gesagt, dass Sie dem Establishment ein Schnippchen schlagen wollten. Wie gut ist Ihnen das bisher gelungen?
Einem allein gelingt gar nichts. Aber ich glaube schon, dass wir zu bestimmten Themen glaubwürdig den Kopf aus der Deckung gesteckt haben. Wenn ich an die Refugees-Welcome-Aktion einer großen Zeitung denke, wo wir deutlich gesagt haben: Wir finden es nicht so prickelnd, wenn ein Brandstifter zum Brandlöscher mutiert und öffentlichkeitswirksam Solidarität und Barmherzigkeit einfordert. Da machen wir nicht mit, gerade weil wir wie kaum ein anderer Klub für eine Willkommenskultur stehen. Uns ist es wichtiger, etwas zu tun. Wir sind ein politischer Klub, und das war auch ein Grund, warum ich mich für St. Pauli entschieden habe. Ich kann nichts damit anfangen, wenn Verbände oder Vereine sagen: Bitte nichts Politisches, wir müssen neutral sein.
Ewald Lienen hat sogar gesagt, man könnte auf die Idee kommen, dass sein ganzer Lebensweg darauf ausgerichtet gewesen sei, beim FC St. Pauli zu landen.
Ich würde nie behaupten: St. Pauli war schon immer mein Klub. Mein Klub ist Rot-Weiss Essen. Als klar war, dass ich hier anfange, kam unser Pressesprecher zu mir, weil er noch ein Zitat für die Pressemitteilung mit mir absprechen wollte. „Schreib es doch so, wie es war“, habe ich gesagt. Eben nicht: St. Pauli war schon immer mein Klub, sondern: Ich habe mich für das wirtschaftlich schlechteste Angebot entschieden. Und das Schlimme ist: Es stimmt. (lacht)
Aber Sie sind nicht hierher gegangen, weil Sie möglichst wenig Geld verdienen wollen.
Das natürlich nicht. Aber wenn Sie die Freiheit haben, Ihre Entscheidung nicht von wirtschaftlichen Dingen abhängig machen zu müssen, ist das schon ein Luxus. Vor 15 Jahren hätte ich das wahrscheinlich noch nicht gemacht. Aber wenn man in der Fußballbranche vernünftig lebt und sich nicht über Statussymbole definiert, kommt man ganz gut über die Runden.
Was hat für St. Pauli gesprochen?
Für mich war der Spirit in diesem Klub entscheidend. Und die handelnden Personen. Ich habe einfach keine Lust mehr auf diesen Jahrmarkt der Eitelkeiten: Wer ist wichtiger als der andere? Mir hat gefallen, welche Leute hier in der Verantwortung sind. Da merkt man sehr schnell, dass das keine Selbstdarsteller sind. Es gibt genügend Leute aus dem Fußball, die wahrscheinlich nicht einmal wissen, wie unser Präsident heißt. Und das spricht ganz sicher nicht gegen unseren Präsidenten.
Was war denn die verrücktere Entscheidung Ihres Berufslebens: zur DFL zu gehen oder zu St. Pauli?
Beide Entscheidungen waren wohl durchdacht und gut überlegt. Auch mit dem Wissen von heute würde ich das noch mal so machen, auch den Wechsel zum Verband.
Wieso?
Weil ich dort noch mal eine neue Perspektive kennengelernt habe, weil ich wie mit dem Weitwinkel auf den Fußball geschaut habe. Aber am Ende habe ich eben auch gemerkt: Bei der DFL hast du a) keine Fans und b) kannst du keine Spiele gewinnen.
Sie haben mit Freiburg, Köln und Augsburg so viele Spiele gewonnen, dass Sie mit all diesen Klubs in die Bundesliga aufgestiegen sind. Hat St. Pauli Sie deshalb verpflichtet?
Das ist ganz weit weg. Aber die Aufstiege sind Dinge, auf die ich gerne zurückblicke. Sie müssen, wenn Sie irgendwo von Bord gehen, Strukturen hinterlassen, die sich von selbst tragen. Sie müssen sich selbst entbehrlich machen. Das ist für mich eine Managementqualität. Deswegen habe ich mir auch nie vorstellen können, ewig bei einem Verein zu bleiben. Aber jedem Verein habe ich mich mit Haut und Haaren verschrieben.
Kann man Strukturen, die Sie in Augsburg oder Freiburg aufgebaut haben, eins zu eins übertragen auf St. Pauli?
St. Pauli tickt anders. Sie brauchen hier doch mehr Energie, um bestimmte Entscheidungsprozesse voranzutreiben. Die große Teilhabe und die Mitgliederbestimmung sind einerseits ein großer Vorteil; auf der anderen Seite müssen Sie mehr Kraft und Zeit investieren, weil alle mitgenommen werden sollen und müssen. Dafür steht hier weder im Negativen einer allein auf der Lichtung, weil er angeblich alles verbockt hat, noch sonnt sich einer alleine im Erfolg. Man merkt, dass viele ein echtes Interesse haben, sich einzubringen. Das ist ein großes Pfund dieses Klubs.
Wirkt diese Haltung auch in die Mannschaft hinein?
Das weiß ich nicht, ich will da auch nicht zu viel hineininterpretieren. Es gibt in jeder Mannschaft Spieler, die sich mit dem Verein wirklich in der Tiefe beschäftigen. Aber es gibt auch welche, die das einfach als Job sehen und in ihren Vertrag schauen, welche Prämie sie am Wochenende verdienen können. Wir haben auch beim FC St. Pauli nicht nur Spieler, die sich jeden Tag um Weltpolitik kümmern.
Viele Leute haben trotzdem das Gefühl, dass der FC St. Pauli auch anders ist um des Andersseins willen.
Das stimmt einfach nicht. Wir machen nichts, nur um medial in Erscheinung zu treten. Wenn wir uns für die 50+1-Regelung einsetzen, tun wir das, weil wir davon überzeugt sind. Fällt diese Regelung irgendwann weg, haben wir im deutschen Fußball ein großes Problem – weil es am Ende nur noch um den Wettstreit geht, wer den wirtschaftlich potentesten Oligarchen an Land gezogen kriegt. Die Bundesliga-Tabelle wird dann die Tabelle der Wirtschaftskraft der Investoren sein.
Wie frustrierend ist es dann, dass ein Klub wie St. Pauli auf Dauer gegen das große Geld nicht wird anstinken können?
Genau das treibt uns an. Dass wir fehlendes Geld mit ein bisschen mehr Leidenschaft, mit ein bisschen mehr Kompetenz und Kreativität auszugleichen versuchen. Wollen wir doch mal sehen, ob wir nicht mit ein bisschen weniger ein bisschen mehr erreichen können! Platz vier in der vorigen Saison ist deshalb so überragend, weil wir wissen, welche Mittel wir eingesetzt haben. Für mich ist die Benchmark: Wenn am Ende der Saison kein Verein vor uns steht, der weniger Geld ausgegeben hat, dann haben wir einen super Job gemacht.
Wie macht man das?
Es gibt kein Rezept dafür. Neben Kompetenz, die ja sowieso alle für sich reklamieren, brauchst du Fleiß und Hingabe. Du musst deine Prinzipien beherzigen, darfst dir für keine Arbeit zu schade sein und dich nicht von deiner Basis entfernen. Ich fahre ja oft mit der Bahn, auch zu den Spielen. Da sind viele ganz überrascht: „Mensch, dass Sie mit der Bahn …“ Warum soll ich nicht mit der Bahn zum Fußball fahren? Wir haben zu viele Entscheidungsträger, die fahren auf den Vip-Parkplatz, da reißt ihnen jemand die Tür auf, hält den Schirm über sie, damit sie bloß nicht nass werden. Und diese Leute sollen dann über Fanbelange entscheiden. Die wissen gar nicht, wie es ist, wenn man vom Hauptbahnhof auf festgelegten Wegen zum Stadion gehen muss. Das alles mal selbst zu erleben, schärft die Sinne. Abgesehen davon, dass es auch Spaß macht.
Andreas Rettig, 53, ist seit September 2015 Kaufmännischer Geschäftsleiter des FC St. Pauli. Beim SC Freiburg, 1. FC Köln und FC Augsburg arbeitete er als Manager und stieg mit allen drei Klubs in die Bundesliga auf. Von 2013 bis 2015 war der frühere Oberligaspieler Geschäftsführer der Deutschen Fußball-Liga.