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"Jedes Training ist eine Chance, ein neues Glücksgefühl zu erzeugen", sagt der 62-Jährige Ewald Lienen.
© Axel Heimken/dpa

Interview mit Ewald Lienen: "Es herrschte Krieg auf dem Spielfeld"

In den 80er Jahren war Ewald Lienen ein Profifußballer. Nun ist er Trainer beim FC St. Pauli und zeigt sich streitlustig wie eh und je.

Herr Lienen, als Spieler waren Sie treu: MSV Duisburg, Borussia Mönchengladbach, Arminia Bielefeld – drei Vereine in 18 Jahren. Als Trainer sind Sie ein Job-Hopper. Wissen Sie, die wievielte Station...

Keine Ahnung.

Der FC St. Pauli ist die 15. Was macht so ein Nomadenleben mit einem?
Ich habe niemals aus dem Koffer gelebt. Wenn ich irgendwo gearbeitet habe, habe ich mich voll und ganz darauf eingelassen. Aber viele Vereine lassen bei den Trainern keine nachhaltige Arbeit zu. Mir war es nicht vergönnt, irgendwo mal länger zu bleiben. Ich bin jetzt 20 Monate bei St. Pauli und hoffe und glaube sehr, dass das hier anders ist.

Im Schnitt waren Sie laut Transfermarkt.de kaum mal anderthalb Jahre bei einem Klub.
Ich habe nicht bei Vereinen gearbeitet, wo einem das Geld aus den Ohren herauskommt. Manche Vereine lassen Krisen einfach am Trainer aus. Man steht so unter Druck, etwas abzuliefern.

Sie haben sich 1985 für die Friedensliste des NRW-Landtags aufstellen lassen und wurden zu Ihrer aktiven Zeit als „Revoluzzer“ angemacht, als Kommunist, als Öko-Sozialist.
Wenn ich als Spieler etwas kritisch angemerkt habe, bekam ich zu hören: „Dann geh’ doch nach drüben.“ Das waren genau diese Leute, die nicht begriffen haben, was Demokratie ausmacht, und die unsere demokratische Grundordnung im Ernstfall nicht verteidigen würden.

Wen meinen Sie?
Die, die jetzt auf die Straße gehen und die demokratischen Werte über Bord werfen, nur um keine Flüchtlinge zuzulassen. Ehrlich, ich hätte mir 1990 nicht vorstellen können, dass es 25 Jahre später schlimmer ist als je zuvor! Wofür haben wir jahrzehntelang gekämpft? In der Friedensbewegung, die Atomwaffen verbannt, um den Klimaschutz gerungen? Alles wurde in die richtigen Wege geleitet, und nun geht’s wieder rückwärts und wir stehen schlimmer da als zuvor: Terrorismus, die rechten Bewegungen in Europa.

Lienen nimmt Niederlagen im Stadion sportlich: "Nicht jeder kann Deutscher Meister werden".
Lienen nimmt Niederlagen im Stadion sportlich: "Nicht jeder kann Deutscher Meister werden".
© imago/Thomas Frey

Mit 27 hatten Sie das Gefühl, Sie müssten was anderes machen als, so wörtlich, „mit kurzen Hosen einem Ball hinterherzujagen“. Jetzt sind Sie 36 Jahre später immer noch mittendrin in diesem Geschäft. Ist Fußball Ihre Droge?
Das verbitte ich mir, dass mein Name in Verbindung mit Drogen genannt wird. Eine Droge ist etwas, das den Geist vernebelt und zu einer Flucht führen soll, weil man mit der Realität nicht zurechtkommt. Davon bin ich Lichtjahre entfernt. Fußball spiegelt doch alles, was in der Gesellschaft vorhanden ist: die unterschiedlichen sozialen Schichten, Multi-Kulti. Es gibt Eifersüchteleien, Mobbing, Teamwork, Emotionen, positive Dinge, Schattenseiten. Als Spieler hat mir das nicht ausgereicht. Ich war keiner, der nur Fußball spielen wollte und dann vor der Glotze abhing.

„Als Spieler war Ewald das alles zu banal“, sagt Ihr ehemaliger Trainer Jupp Heynckes.
Ich habe mich damals politisch und sozial engagiert und weitergebildet. Aber als Verantwortlicher in einem Verein ...

... hätte sich Heynckes nicht vorstellen können, dass ausgerechnet Sie mal „ein so akribischer Arbeiter in Sachen Fußball werden würden“.
Ich liebe diesen Beruf und empfinde ihn als unglaublich facettenreich: Ich leite Menschen an. Ich bin Lehrer, muss ihnen Fußballspielen beibringen. Ich muss Psychologe sein und in der Öffentlichkeit auftreten. Als Spieler meinte ich, ich müsste ganz viel noch nebenbei machen. Jetzt habe ich gar nicht mehr die Zeit für anderes.

Sie haben damals auch schon Frischkornbrei selbst geschrotet... – Herr Lienen, Sie sagen ja nichts.
Was soll ich dazu sagen? Ich bin verlacht worden! In allen olympischen Sportarten weiß man schon seit 50 Jahren, dass ein Zusammenhang besteht zwischen Verletzung und Ernährung. Nur im Fußball hat das ein bisschen länger gedauert.

Sie haben in der Ära eines Hans Ettmayer gespielt, Spitzname „Buffy“, Dickerchen. Der torpedierte jeden Diätversuch mit schlechter Leistung, sodass Trainer ihn immer wieder anflehten: „Friss wieder Kuchen und Eis, Buffy.“
Es gab viele Spieler, die nicht auf Genussmittel verzichten wollten und sich die Nacht um die Ohren gehauen haben – und das bis vor etwa 15 Jahren. Ich bin ja kein Ernährungswissenschaftler gewesen, ich habe nur die Bücher gelesen, die es gab, und habe versucht, meine Ernährung entsprechend umzustellen, um so fit wie möglich zu sein.

"Es gab zig brutale Fouls, meins war das spektakulärste"

August 1981, Bremer Weserstadion, 20. Spielminute: Norbert Siegmann setzt zur Grätsche an und schlitzt Lienens rechten Oberschenkel auf.
August 1981, Bremer Weserstadion, 20. Spielminute: Norbert Siegmann setzt zur Grätsche an und schlitzt Lienens rechten Oberschenkel auf.
© picture alliance / Rzepka - Pres

Hätten Sie sich in der heutigen Zeit wohler gefühlt?
Natürlich ist es vernünftiger, was wir jetzt machen. Damals herrschte Krieg auf dem Spielfeld. Klingt übertrieben, aber so war es. Da gab es keine Super Slow Motion, die jeden Ellenbogencheck aus jedem Blickwinkel festhielt. Heute müssen wir aufpassen, dass wir uns nicht mit Wattebäuschchen beschmeißen.

Dortmunds Trainer Thomas Tuchel beschwert sich, seine Mannschaft werde 20 Mal pro Spiel gefoult. Müssen Sie da lachen als jemand, der als Stürmer Freiwild war – und Opfer eines legendären Fouls?
Es gab zig brutale Fouls, meins mit der 25 Zentimeter langen offenen Wunde am Oberschenkel war nur das spektakulärste, weil man hineinsehen konnte, der Muskel lag frei. Aber es war harmlos, es waren keine Muskeln, keine Knochen in Mitleidenschaft gezogen. Es gab andere hässliche, böse Fouls: gerissene Bänder und total zerfetzte Fußgelenke. Ich finde es traurig, dass Thomas an die Fairness appellieren muss. Und ich verstehe nicht, warum es keinerlei Abstufung gibt. Bis heute nicht! Ob ich dem Schiri die Hand auf den Arm lege oder ob ich jemandem fast das Bein durchtrete: Gelbe oder Rote Karte. Da fehlt mir die Differenzierung.

Basketballtrainer Svetislav Pesic meinte mal, „im Leistungssport sind 80 Prozent Enttäuschung und 20 Prozent Freude – und für diese 20 Prozent tun wir das alles“.
Das sehe ich anders. Sicherlich ist man super enttäuscht, wenn Spiele verloren gehen. Am nächsten Tag bin ich schon wieder bei der Arbeit, jedes Training ist eine Chance, ein neues Glücksgefühl zu erzeugen. Einem einzelnen Spieler dabei geholfen zu haben, besser zu werden: Gewicht reduzieren, Schnelligkeit vergrößern, Leistungsfähigkeit, taktisches Verständnis verbessern. Das sind echte Erfolge. Die nimmt aber niemand wahr. Es kann nicht jeder Deutscher Meister werden. Wenn es nur darum ginge, wären 99 Prozent der Fußballtrainer erfolglos. So eine Ansicht ist ja lächerlich.

Sie haben 1979 mit Gladbach den Uefa-Pokal gewonnen. Als Trainer sind Sie 2000 mit dem 1. FC Köln in die Bundesliga aufgestiegen. Das sind doch die Fußballerträume und ekstatischen Glücksgefühle.
Klar weiß ich noch, wie wir mit dem 1. FC Köln gefeiert haben. Morgens kam ich aus der Diskothek und habe um 6 Uhr ein gekochtes Ei gegessen mit einem Brötchen. Dann saß ich da, nach einem Jahr gigantischer Arbeit, mit diesem Ei... Aber so ein Gefühl erlebst du vielleicht zwei-, dreimal. Nur dafür zu leben, das wäre ja eine Schande.

Ihr ehemaliger Spieler Hanno Balitsch, der Sie für „11 Freunde“ interviewte, war verblüfft, wie sehr Sie sich mit seinen privaten Ideen beschäftigt hatten, bevor Sie ihn in Ihren Kader holten.
Fußball ist nicht Erfolg oder Misserfolg. Es geht um Persönlichkeit, Authentizität. Ich glaube nicht, dass man durch Äußerlichkeiten zufriedener wird. Egal, ob das Titel sind, Besitztümer, Geld, Medaillen – all das macht einen nicht glücklicher.

Chinesische Investoren haben sich mit 70 Millionen Dollar bei Inter Mailand eingekauft, bei Paris St. Germain regiert der Kronprinz von Katar. Im Spannungsfeld zwischen Tradition und Marketing, St. Pauli und Red Bull – wo wird die Reise hingehen?
Dieses Thema Red Bull nervt mich langsam. Die haben zehnmal mehr Recht, respektiert zu werden, als all die Klubs, die wildfremde Investoren zulassen. Die haben doch mit dem Sport nichts zu tun. Erzählen Sie mir nicht, dass man mit einem Fußballverein Geld verdienen kann. Abramowitsch, hat der mit Chelsea Geld gewonnen?

Der russische Oligarch soll 1,2 Milliarden Euro in diesen Londoner Klub investiert haben.
Unglaublich! Was hat er vorher gemacht? Öl produziert? Da kannte ihn keiner. Das ist die Motivation für Investoren: Bekanntheit, Macht.

Stürmerstar Gerd Müller soll in den 70er Jahren ein Netto-Jahresgehalt von 150 000 Euro verdient haben. Erinnern Sie sich noch an Ihr erstes Gehalt, 1974, als es losging bei der Arminia in Bielefeld?
Natürlich. Darüber spreche ich aber nicht.

In der Premier League stiegen die Gehälter der Spieler in den vergangenen 20 Jahren um 1500 Prozent, ganz normale Löhne gerade mal um 50 Prozent. Was sagt das über unsere Gesellschaft?
In meiner Sturm- und Drangzeit als Revoluzzer hätte ich gesagt, das ist geplant vom System. Fußballspieler hoch zu bezahlen, um das Volk zu unterhalten nach altem römischen Vorbild, panem et circenses, Brot und Spiele, damit es nicht auf die Idee kommt, an den Geschehnissen etwas zu verändern.

Und was sagen Sie als erfahrener Trainer?
Das Gleiche!

"Die Spieler sind heute nicht eitler als früher"

Lienen in seinem Element. 2011 als Trainer von Arminia Bielefeld beim Spiel gegen MSV Duisburg in der Schauinsland-Reisen-Arena in Duisburg.
Lienen in seinem Element. 2011 als Trainer von Arminia Bielefeld beim Spiel gegen MSV Duisburg in der Schauinsland-Reisen-Arena in Duisburg.
© Roland Weihrauch dpa/lnw

Die „taz“ schrieb, der professionelle Spitzenfußball sei auf dem Weg, zum Hollywood des 21. Jahrhunderts zu werden: bestbezahlte Akteure für das Freizeitvergnügen der Massen der Welt.

Das hat der Fußball nicht exklusiv. Hohe Gagen gibt es überall und auch nicht nur im Sport.

Die höchste Ablösesumme, die für Sie als Spieler bezahlt wurde, waren 310 000 Euro. Bei Superstar Messi sind 225 Millionen festgeschrieben.
Warum fragen Sie nicht, was ein Banker verdient? Abgesehen davon, dass der Fußballer dafür sorgt, dass sich die Revolution noch ein bisschen dahinschleppt, gehören wir nicht zu denen, die 2008 die Welt ins Unglück stürzten. Banker bekommen für ihr Versagen auch noch Millionen als Boni. Wofür? Dass sie die ganze Welt betrügen? Und eine ähnlich zwielichtige Gestalt schickt sich gerade an, Präsident der USA zu werden. Das ist pervers.

„Ewald hasst Ungerechtigkeit sogar im Film,“ meint Ihre Frau Rosa.
Ich liebe Filme, dabei kann ich mich ein bisschen entspannen. Sie sind eigentlich eine große Chance, Menschen Dinge zu vermitteln. Aber als ich mal ein paar Monate nicht gearbeitet hatte, war ich kurz davor, den Fernseher zu zertrümmern, weil die Botschaften, die mir da entgegenkamen, grässlich sind: Es lohnt sich in diesen Filmen, die Werte von Zwischenmenschlichkeit und Anstand mit Füßen zu treten; der Böse darf sich jahrelang durch die Serie schlängeln und alles machen, was Gott verboten hat. Wir Fußballer halten die Leute wenigstens nur am Wochenende von der Revolution ab.

Sie waren auch als Spieler strikt gegen den Heldenkult, haben deshalb keine Autogramme gegeben.
Ich habe die Jungen gefragt: Warum willst du von mir ein Autogramm? Hast du deinen Bäcker schon mal gefragt? Deinen Milchmann? – „Die spielen ja nicht Fußball.“ – Naja, meinst du nicht, dass die auch ihren Job machen? – „Du bist doch ein Star im Fernsehen.“ – Ja, dann geh doch zum Tagesschau-Sprecher und hol’ dir von dem ein Autogramm.

In den 70er Jahren gab es kaum Kosmetik für Männer, heute macht Bundestrainer Löw Reklame für Creme. Das Sixpack ist bei den Spielern der Generation Selfie zum Statussymbol geworden, Tattoos auch. Profis sind offensichtlich eitler als früher.
Sie können doch nicht sagen, dass die Spieler heute eitler sind, nur weil sie sich mit Gel vollschmieren! Wir dachten, vorne kurz und hinten lang sei schön. Statussymbole waren Designklamotten, ’ne Rolex ums Handgelenk, das Auto. Da musste man einen tiefergelegten Wagen haben, also wurden die Federn verkürzt, breite Reifen aufgezogen und hinten noch ein Spoiler dran. Die Eitelkeiten der Herren, sich zeigen zu wollen, hat es immer gegeben.

Die Anforderungen sind größer geworden. Allein bis ins Champions-League-Finale sind es heute 13 Partien. Dazu Länderspiele, Pokal, internationale Freundschaftsspielreisen für den asiatischen Markt.
1985, als wir mit Gladbach gegen Real Madrid antraten, da saß ganz Deutschland vor dem Fernseher. Heute spielt ständig einer gegen Barcelona oder Real Madrid. Das beutet die Spieler physisch und mental aus. Ein Bastian Schweinsteiger ist mit 31 Jahren fast ausgebrannt, alle drei Tage ein Spiel, keine Zeit zu regenerieren, keine Zeit zu trainieren, keine Muße. Ich war fast 40, als ich aufgehört habe. Und ich hätte nicht aufhören müssen, ich war physisch noch in Top-Form.

Der moderne Fußball ist digital. Die Deutsche Sporthochschule tüftelt an einer Software, mit der man sich sein Team nach ausgesuchten Parametern am Computer zusammenstellen kann.
Damit kann ich nichts anfangen. Statistische Daten können bei der Arbeit zwar helfen, die Analyse zu erhärten, werden aber oft überbewertet. Bei uns geht es um Kreativität und Zusammenarbeit.

Der jüngste Trainer der Liga, Julian Nagelsmann, lässt in Hoffenheim sein Training neuerdings mit einer Drohne filmen.
Das haben wir schon viel früher gemacht. Aus der Vogelperspektive siehst du wunderbar, wie sich alle bewegen. Ich habe zu meinem filmenden Kollegen nur gesagt: Pass auf, wenn das Ding runterfällt und sich einer verletzt, entlasse ich dich.

Cornelia Heim

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