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Vollgas von Beginn an. Jens Voigt (re.) bei seiner ersten Tour de France 1998.
© Imago

Radsportler Jens Voigt beendet seine Karriere: 21 Mal um die Welt

Nach 18 Jahren Schwerstarbeit im Sattel beendet Jens Voigt seine Radsportkarriere. Der Wahlberliner kommt dabei auf etwa 875 000 zurück gelegte Kilometer, 340 Tage bei der Tour de France und etwa 110 Stiche nach Sturzverletzungen.

Alles hat einmal ein Ende, auch eine Radsportkarriere. Im fernen Amerika bestreitet Jens Voigt sein letztes Profirennen. Zur Finissage bei der US Pro Challenge in Colorado gibt ihm der Ausstatter Trek ein frisch lackiertes Rad, auf dem die Namen seiner Kinder stehen, und eine funkelnagelneue Rennausstattung. „Sogar das SRM-Gerät ist farblich angepasst. Die haben sich große Mühe gegeben“, sagt Voigt – und vermutet scherzhaft Hintergedanken beim Ausstatter: „So kann ich hinterher nicht zurück vom Rücktritt. Wahrscheinlich haben die sich gedacht: Jetzt machen wir Nägel mit Köpfen.“

Aber Voigt will selbst auch aufhören. Kurz hat er in diesem Jahr noch einmal überlegt, ob er die alleinige Rekordmarke von 18 Teilnahmen bei der Tour de France anpeilen sollte. Jetzt ist er mit George Hincapie und Stuart O’Grady gemeinsamer Rekordhalter mit 17 Tourteilnahmen. Aber dann war er doch froh, dass bald alles ein Ende hat, das viele Reisen, das Trainieren bei Wind und Wetter, die langen Abwesenheiten von zu Hause. Die Colorado-Rundfahrt hat er wegen der vielen Fans in Übersee als Finale ausgewählt.

Jens Voigt feierte bei der Tour zwei Etappensiege

Als Anhänger der GPS-Schnitzeljagd Geocaching will der Wahlberliner in den Rocky Moutains ein paar Erinnerungsstücke seiner langen Karriere verstecken, zugleich aber den Eindruck eines Trudelns in den Ruhestand vermeiden. „Ich will meinen Job vernünftig zu Ende bringen und bei ein, zwei Etappen auch in eine dieser so spektakulären wie sinnlos endenden Fluchtgruppen gehen“, sagt er.

Mit Voigt tritt ein Schwerarbeiter der Radsportszene ab. Etwa 875 000 Kilometer hat er nach eigener Rechnung seit seinem neunten Lebensjahr in Training und Wettkampf auf dem Rad zurückgelegt. Das sind mehr als 21 Erdumrundungen. 1500 Renntage kommen zusammen, allein 340 bei der Tour de France. Fast ein ganzes Jahr am Stück also über Alpen und Pyrenäen – und mit der Entschädigung der Ankünfte in Paris.

Das Rennen in Frankreich hat Voigt geprägt. Zwei Etappensiege errang er, je zwei Mal trug er das Gelbe Trikot des Gesamtführenden und das gepunktete Trikot des Besten in der Bergwertung. Als schönstes Erlebnis nennt er den Moment, als er im Juli 2008 gemeinsam mit seinen CSC-Kameraden auf das Podium für die beste Mannschaft gerufen wurde und Teamkollege Carlos Sastre den Gesamtsieg holte. Er kommt ins Schwärmen: „Wir zu neunt auf dem Podest, vor uns die Champs-Élysées, über uns strahlende Sonne, hinter uns der Arc de Triomphe.“ Immerhin ist Sastre einer der wenigen Toursieger der jüngeren Vergangenheit, der niemals mit Doping in Verbindung gebracht wurde.

Thema Doping: Sagt Voigt die Wahrheit oder ist er noch gerissener als Lance Armstrong

Voigt selbst ist durch die 18 Jahre seiner Profikarriere ebenfalls ohne positive Kontrolle und ohne nachträgliche Geständnisse gekommen. Er selbst hat eine einfache Erklärung parat: Risikoabwägung. „Ich habe mich gefragt: Willst du ein Millionär und Superstar werden mit dem Risiko, dass die Sache jeden Moment explodiert, oder willst du ruhig und sicher leben? Ich habe mich für das ruhige Leben entschieden“, versichert er. Und wer das nicht ganz glaubt, dem gibt er auf den Weg: „Wie denkt ihr denn, dass ich gedopt haben soll? Ich war nie bei Fuentes, nie bei Ferrari, ich war nicht bei Humanplasma in Österreich. Soll ich das immer allein gemacht haben? Und soll ich dann immer der Cleverste von allen gewesen sein, der, der niemals erwischt wurde?“ Da steht der Beobachter vor dem Dilemma, Voigt entweder für gerissener noch als Lance Armstrong zu halten – oder ihm zu glauben.

Was auf alle Fälle als das Erbe des Jens Voigt Bestand haben wird, ist die Erinnerung an Alleinfahrten vor wie hinter dem Feld. Bezeichnenderweise nennt Voigt eine Verfolgungsfahrt hinter dem Peloton als eines seiner prägendsten Erlebnisse. Er absolvierte diese Fahrt allerdings auch auf einem Kinderfahrrad, weil bei einem Sturz während der Tour 2010 sein Rad völlig demoliert wurde. „Ich bin nach etwa 15 Kilometern gestürzt. Es war wie in einem dieser billigen Horrorfilme. Das Blut lief mir aus dem Ellenbogen den Arm entlang und tropfte von den Fingerspitzen auf die Straße. Ich konnte auf dem Asphalt meine eigene Blutspur sehen. Eine Viertelstunde lang wurde ich verarztet. Als ich dann losfahren wollte, war nur noch ein Begleitfahrzeug für das Kinderrennen da, das die ASO auf jeder Etappe für die Nachwuchsfahrer der Umgebung organisiert. Die hatten quietschgelbe Jugendräder auf dem Dach, mit Riemchenpedalen und maximaler Übersetzung von 50:14“, berichtet Voigt. Er nahm sich solch ein Rad, trat mit seinen Klickpedal-Rennschuhen in die Riemchenpedalen, schloss die Riemchen und fuhr los. „Erst habe ich Robbie McEwen eingeholt, dann Mark Cavendish und schließlich auch das Grupetto, mit dem ich es ins Ziel schaffte.“ Zwischendrin erhielt er noch sein Ersatzrad. Und der Ellenbogen wurde so gut zusammengenäht, dass Voigt bis Paris durchfuhr.

Nach der Karriere will Voigt bei seinem Team im Hintergrund arbeiten

Etwa 110 Stiche hat er im Laufe seiner Karriere nach Sturzverletzungen erhalten, „zwei, drei Ersatzteile aus Titan sind weiterhin in meinem Körper“. Wer das aushält, muss seinen Sport lieben.

Ein gemachter Mann ist Voigt dennoch nicht. „Wir Radprofis verdienen zwar gutes Geld. Aber ich habe sechs Kinder zu ernähren. Und ich wohne nicht in der Schweiz oder Monaco, wo man 1000 Euro Steuern zahlt und den Rest behält“, meint er. Also wird er nach der Karriere bei seinem Team im Hintergrund arbeiten, er wird für das Reisebüro seines Ausstatters an Fahrradtouren teilnehmen, sein Buch zu Ende schreiben, Radsport im Fernsehen kommentieren und seinen Onlineversandhandel von Fanartikeln ausbauen. „Ich werde verschiedene Dinge ausprobieren und schauen, was am besten zu mir passt und was ich dann die nächsten fünf bis zehn Jahre auch machen will“, sagt er.

Eine Hintertür hält er sich freilich offen. „Wenn beim Team Not am Mann ist, ein Fahrer wegen eines Sturzes ausfällt, springe ich ein. Ich habe ja noch einen Arbeitsvertrag“, sagt Jens Voigt. Dann müsste er das Abschiedsrad noch einmal ausführen.

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