Die Nacht von Potsdam: Wenn Steine weinen könnten
Geschichte dampft sich manchmal zu kalten Buchstaben ein. So wie vor 73 Jahren in der Nacht des 14. April 1945. Kategorie A – Potsdam existiert nicht mehr, meldete die Royal Air Force am nächsten Morgen. Vom Untergang einer Stadt und ihrer neuen Magie - ein Essay in Auszügen.
Versailles des Nordens, preußisches Arkadien oder das glanzvolle Athen, wie Voltaire dieses unendlich magische, von königlichen (Wunsch-)Träumen erfüllte Potsdam in seinem Schmuck der Beinamen adelte. Aber manchmal dampft sich die Geschichte auch zu kalten Buchstaben ein: Zur „Kategorie A“, wie die Briten am Morgen jenes 15. April vor 73 Jahren die Verwüstung Potsdams einordneten. Zur „Operation Flusskrebs“, wie der höchst banale, dem Angelsport entlehnte Tarnname für die Potsdam-Pläne lautete. Und die Nazis wiederum sahen in der Stadt lediglich „Abschnitt E“ des Verteidigungsrings um Berlin: „Die Insel Potsdam ist als fester Platz zu halten“, lautete der Wahnsinns-Befehl. Ausgerechnet am Tag des Angriffs war der damalige Oberbürgermeister Hans Friedrichs noch ins Führerhauptquartier nach Berlin gefahren, um Potsdam zur „offenen Stadt“ erklären zu lassen – vergebens. Aus. Vorbei. Die Katastrophe nahte.
Potsdam, letztes feuerzerstürmtes Opfer des Krieges. Diese steingewordene Allegorie des schönen Scheins, eines Theaters ewiger Sehnsucht, hat es schwer gebüßt, große Geschichte gewesen zu sein. Es kam, wie es niemand ahnte, an jenem von den Wetterkundlern als „Vorfrühlingstag“ eingestuften Sonnabend vor 73 Jahren: Die Potsdamer mögen mittags noch durch Sanssouci flaniert sein, den Krieg gleichsam abgehakt: Denn zwei Wochen später wäre die Rote Armee, wären die Sieger, ohnedies in der Stadt gewesen.
„Warum, warum können die Menschen nicht in Frieden leben?“
Montagnacht nach Potsdams Tod begann der sowjetische Sturm auf Berlin an den Seelower Höhen. Am Sonntag nach dem Angriff befreien die Briten das KZ Bergen-Belsen, wo Anne Frank starb. Das junge Mädchen, das in einem ihrer Briefe schrieb: „Warum, warum können die Menschen nicht in Frieden leben?“
An diesem Sonnabend wird Otto Becker, der Glockenspieler, wie gewohnt in die schwindelnden Höhen des Garnisonkirchturms steigen und das Carillon zum Klingen bringen: „Üb immer Treu und Redlichkeit “ oder so manches Volkslied. Haben die Potsdamer – trotz des 21. März 1933, der auf ewig den scheinbar braunen Namen ihrer Stadt prägt – sich in der Regel nicht treu und redlich verhalten? Bewahrte Stauffenberg nicht die Bombe, die Hitler töten sollte, in der Löwenvilla in der Gregor-Mendel-Straße 26 auf? War nicht auch in dieser über Jahrzehnte durchmilitarisierten Stadt der Eid an Gewissen und Verantwortung gebunden? Prägte nicht Henning von Tresckow, der Potsdamer, weitgehend den 20. Juli 1944?
Die „rund 37 000 alleinstehenden Mütter mit Kindern unter 14 Jahren“, wie eine Amtsnotiz später mitteilt, mögen solchen Gedanken nicht nachgegangen sein. Und die etwa 30 000 Flüchtlinge, sich aus den Tiefen Ostpreußens herbeigequält in die scheinbar rettende Stadt: Sie kamen irgendwo bei Potsdamern unter. „Einquartierung“ hieß das damals.
Ein ganz normaler Tag
Vielleicht saß mancher Mitbürger dennoch an jenem Nachmittag, als die Briten-Bomber eigentlich schon starten sollten – geplant war zunächst eine kombinierte Aktion mit der Bombardierung von Hitlers Obersalzberg – noch an der Alten Fahrt in der Sonne. Vielleicht gab es noch Muckefuck in weißen Steingut-Tassen auf der Terrasse vom „Café Herbst“ an der südwestlichen Ecke des heutigen Platz der Einheit, das Gebäude steht dort heute noch. Vielleicht ging der eine oder andere in den Abendgottesdienst in der Nikolai-, Garnison- oder Friedenskirche. Alle wohlbehalten. Unzerstört. Noch.
Vielleicht lief man auch auf dem Heimweg durch die Brandenburger Straße – in Vorkriegszeiten noch mit Autoverkehr. Oder schaute in der „Potsdamer Tageszeitung“, liebevoll auch „Potsdamer Tante“ genannt, nach dem Programm im „Bergtheater“ am Leipziger Dreieck – falls noch Lichtspieltheater spielten. Wenig wahrscheinlich, vermutlich.
Jedenfalls herrschte relative Ruhe an jenem 14. April 1945. Dem Tag, an dem 200 Jahre zuvor der Grundstein für des Alten Fritzen „Schlößchen auf dem Weinberg“ gelegt wurde. Dem Tag, an dem 150 Jahre zuvor der Grundstein für die „italienische“ Friedenskirche in den märkischen Sand am Rande der paradiesischen Gärten gesenkt wurde.
Aber hinter den Kulissen der Stadt lebten, nein vegetierten auch 4403 „Fremd- und Ostarbeiter“, nach der Lagerordnung mit dem plebejischen „Du“ und nicht anders anzusprechen. Und der „Erschießungsplatz“ im Bornstedter Katharinenholz funktionierte einwandfrei – Standgerichte ließen immer neue Opfer herankarren: desertierte Soldaten, Verdächtige, Unliebsame. Die bürokratische Maschinerie funktionierte bis in die letzten Stunden.
Die Bomben kamen als Potsdam schlief
Und dann kommen, als Potsdam schläft, die Jungs von der 1. und 3. Group von Arthur Harris’ „Bomber Command“. Viele von ihnen waren bereits zwei Monate zuvor in Dresden dabei. Sie wissen, was effektives Bomben heißt. Und sie wollen auch möglichst heil wieder nach Hause. 20 Minuten Abwurfzeit müssen also reichen. Der Himmel über Potsdam schimmert hell – da braucht es eigentlich die leuchtenden „Weihnachtsbäume“ nicht, die vor allem das Bahnhofsviertel markieren – es ist als „target“, als Hauptziel, angegeben.
Nein, Potsdam aber ist nicht zu denken ohne Guernica, ohne Rotterdam, ohne Warschau, ohne Coventry, ohne Leningrad. In den Archiven finden sich die Hinweise, dass von Potsdamer Boden der deutsche Teil des unmenschlichen Bombenkriegs ausging: In der Bunkeranlage „Kurfürst“ in Geltow, später Zentrale der NVA-Landstreitkräfte, heute Einsatzführungskommando der Bundeswehr, tief im Wald, befand sich zu Kriegsbeginn die Luftwaffenführung. Von hier aus gab Hermann Göring fünf Tage vor Kriegsbeginn, am 25. August 1939, den vorsorglichen Befehl an die Stukas, die Sturmkampfflugzeuge: „Ostmarkflug 26. August, 4 Uhr 30“. Fünf Tage später brannte Warschau.
„Potsdam existiert nicht mehr.“
Potsdams wegen ergab sich vor etwa dreizehn Jahren eine bis heute unvollendete Debatte über das „Warum“ der Bombardierung: Reine Schreckensgewalt oder militärisch sinnvoll? Während der hochverdienstvolle Potsdamer Historiker Hans-Werner Mihan immer wieder die klare Zielvorgabe „Bahnhofs-Viertel“ hervorhob und mit der Legende aufräumte, das ganze Potsdam sei nur durch das Abdriften der Leuchtbomben in Richtung Havel gerettet worden („Es herrschte leichter Süd-, aber kein Westwind“), kam der NS-Forscher Jörg Friedrich zu einem ganz anderen Ergebnis. Seine Erkenntnis, eher ein philosophischer Überbau des Ganzen, lautet in seinem Buch „Der Brand“: „Potsdam wurde zerstört, um den preußischen Militarismus geschichtlich zu annullieren.“ Die Idee hinter der planvollen Vernichtung: „Jedes Gefäß soll brechen, das dem Ungeist zu künftigem Aufenthalt taugt.“ Der Bombenhammer habe eingeschlagen, „weil der Stein beseelt war“. Was der These Friedrichs nahekommt, ist die unbarmherzige Diktion der Meldung aus dem Hauptquartier der Royal Air Force vom nächsten Morgen: „Potsdam existiert nicht mehr.“ War mehr gemeint, als „nur“ das Bahnhofsviertel in Schutt und Asche zu stürzen? Fragen über Fragen.
Auch jene, ob es vielleicht in diesem Sommer gelingt, ein – über die Jahrzehnte nie zustande gekommenes – verbindliches Zeichen der Versöhnung über die „Nacht von Potsdam“ zu finden: Die Queen reist an. Vor 26 Jahren, 1992, besuchte sie die Kreuzkirche in Dresden (die Frauenkirche lag damals noch in Trümmern). „Reconcilation and Remembrance“ – Versöhnung und Erinnerung – lauteten damals die alle Emotionen mildernden Begriffe. Auch in und für Potsdam, wo sich die Queen bereits 1992 aufhielt und mit dem Landauer durch Sanssouci rollte, wäre eine derartige Geste von Herzen zu wünschen.
„Potsdam – ein Juwel."
Aber Prinz Charles, der Thronfolger, sorgte sich schon vor 23 Jahren um Potsdam, als er seine „Urban Design Task Force“ in die Stadt schickte. Die jungen Architekten schlugen vor, den Alten Markt durch den Nachbau des Fortuna-Portals wieder aufleben zu lassen. Und seine Königliche Hoheit lobten die Stadt über die Maßen: „Potsdam – ein Juwel, gefasst in eine atemberaubende Landschaft aus Hügeln, geschmückt mit Villen von Schinkel, Persius und ihresgleichen. Potsdam ist ein Ort, der die tiefe Sehnsucht derer, die es erbauten, bezeugt – um die Landschaft ringsum zu umarmen und aus ihr ein Gesamtkunstwerk zu machen.“
Aber folgen wir noch einmal den Spuren der untergegangenen Stadt: Wenn Potsdams Steine weinen könnten – sie täten es: Wegen dieses Traumlandes aus Kindertagen, der geisternden Romantik, diesem „goldenen Stein vor südlich-blauem Himmel“, wie der wunderbare Flaneur Ludwig Sternaux in den 30ern schrieb. Es war jener Frühlingshimmel, den die Potsdamer an jenem 14. April vor 73 Jahren als gnädiges Zeichen erhoffter, kommender Friedenszeiten empfanden. Wenn sich diese Stadt eines Tages wieder zusammenfügt, an ihre wundersame Anziehungskraft glaubt, bei sich und ihrer Geschichte bleibt und nicht zur Investoren-Hochburg verdämmert – dann, vielleicht, werden die Steine nicht mehr über die Nacht vor 73 Jahren weinen müssen.
Dieser Artikel erschien bereits in einer Sonderausgabe zur Nacht von Potsdam am 11. April 2015.
Zur Person
Hans-Rüdiger Karutz, Jahrgang 1941, aufgewachsen in Potsdam, seit 1954 in West-Berlin, Ausbildung zum Buchhändler, danach journalistische Laufbahn (u.a. "Kölner Stadt-Anzeiger" und "Tagesspiegel"), Leiter des "Welt"-Büros in Berlin, speziell DDR-Berichterstattung, "Welt"-Chefreporter- und korrepondent, seit 2006 freier Autor.
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Hans-Rüdiger Karutz
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