Erinnerungen an den 14. April 1945: Mein Überlebensglück bleibt ein Rätsel
Gudrun Härtel, im September 1939 geboren, erlebte als Fünfjährige das Bombardement Potsdams. Damals lebte sie in der Behlertstraße 43, heute in Berlin.
Die letzten Kriegswochen im Frühjahr 1945 erlebte ich als fünfjähriges Mädchen im Hause Behlertstraße 43 (nahe der Kreuzung Berliner Straße/Humboldtbrücke, d. Red.). Dieser Wohnblock steht noch heute – und scheint seine Kriegsspuren nicht zu verlieren, so ungepflegt wirken Haus und Umgebung, fast ruinös.
Die Front des Quergebäudes blickt zur heutigen Berliner Straße und sollte eine wichtige Bedeutung für uns bekommen. Bei jedem Bombenalarm, der aber bis Mitte April stets Berlin gegolten hatte, wurden mein älterer Bruder Jochen und ich halb schlaftrunken aus dem Bett gerissen, rasch angezogen und in den Luftschutzkeller gebracht. Frierend und zitternd saßen wir dort mit den Nachbarn und warteten auf die Entwarnung.
Überall Lärm
In der Bombennacht des 14. April schlug in eben jenes Quergebäude eine Bombe ein. In unserem nur wenige Meter entfernten Keller begann ein unheimliches Geschrei, überall Lärm – die Kellerfenster flogen auf, Steine und Staub wirbelten in den Keller. Die Frauen klammerten sich an den einzigen Mann im Raum – als ob er in diesem Inferno helfen könnte.
Der Keller lag voller Trümmer – aber wir lebten. Als wir frühmorgens in unsere zum Teil zerbombten Wohnungen zurückkehren wollten, kam der nächste Schock: Vor der Haustür lag ein toter deutscher Soldat. Die Leiche versperrte den Zugang. Beherzt erfassten die Frauen im Haus die Situation – sie zerrten den Leichnam an den Stiefeln in den Vorgarten. Wir Kinder starrten stumm und entsetzt auf dieses schreckliche Schauspiel.
Auf der Straße zeigte sich, dass die Bombe im Nachbarhaus unsere Wohnung verschont hatte – das besagte Haus brannte völlig aus –, für uns Kinder in den Nachkriegssommern ein begehrter und ebenso gefährlicher Spielplatz. Mir selbst wurde bei einem dieser Abenteuerspiele in den Trümmern die halbe Nasenspitze weggerissen. Meine Mutter drückte die Kuppe einfach wieder auf die Restnase – die Narbe zeigt sich noch heute.
Nach dieser traumatischen Nacht im Keller mussten wir unsere Wohnung verlassen und suchten Schutz im ehemaligen Wasser-Bauamt in der Berliner Straße (später Sitz der Sowjetischen Militäradministration, heute Sitz der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben, d. Red.).
Zurück in die fensterlose Wohnung
Dort im bombensichereren Keller verbrachten wir mit vielen anderen Anwohnern die Nächte bis zum Einmarsch der Russen Ende April 1945. Dann kehrten wir in unsere fensterlose, aber immerhin benutzbare Wohnung zurück – ersetzten die Scheiben durch Pappe. Drinnen war es deshalb auch tagsüber stockdunkel. Wir nahmen die ersten Flüchtlinge aus den Ostgebieten auf. Sie brachten Läuse, Krätze und vor allem einen fürchterlichen Kopf-Grind mit, der mich meine schönen Haare kostete.
Es kam der Hunger – ich erinnere mich, wie meine Mutter mit anderen zusammen ein zusammengebrochenes, totes Pferd ausweidete und das Fleisch mit nach Hause brachte. Aus der zerbombten ehemaligen Fabrik in der Nähe stammte köstlicher, halb verbrannter Zucker. Rasend schnell sprach sich herum, wo es irgendwo etwas zu holen gab.
Auf dem Schwarzen Markt auf dem heutigen Luisenplatz tauschten russische Soldaten ihr Brot, was sie reichlich hatten, gegen Schmuck oder andere wertvolle Gegenstände. Meine Mutter war bei diesem „Verscherbeln“ sehr einfallsreich. Wir Kinder spielten derweil barfuß in den scharfkantigen und gefährlichen Trümmern – an Schule war nicht zu denken. Später ging ich auch barfuß zur Schule in der Jägerstraße, als sich die Lage ein wenig normalisierte.
Auf dem üblichen Klassenfoto der „Ersten“ kamen die Kinder mit Schuhen in die erste Reihe – alle anderen wurden dahinter platziert.
Die erfolgreiche Hamsterei hing von einem kleinen, primitiven Handkarren ab, den meine Mutter organisiert hatte. Mein Bruder und ich passten auf, dass dieses Gefährt nicht gestohlen wurde – was irgendwie herrenlos schien, verschwand sofort auf Nimmerwiedersehen.
Wir rannten auch hinter Pferdefuhrwerken her – immer in der Hoffnung auf einige „Äpfel“, die dann im Buddelkasten-Beet für das nötige Wachstum des Gemüses sorgen sollten.
Die russischen Soldaten waren zu uns Kindern nett, verschenkten Bonbons – wobei unsere Mutter kategorisch verlangte, alles, wir von den Rotarmisten bekamen, ihr sofort zu zeigen. Aber die Soldaten plünderten auch ungeniert – beispielsweise sämtliche Kleidungsstücke meines noch in kanadischer Gefangenschaft in Süditalien befindlichen Vaters und meines Onkels Erich. Er fiel noch, als der Krieg eigentlich längst vorbei war, unter bis heute nicht geklärten Umständen in der Lüneburger Heide.
Dennoch bleibt das Fazit: Das Grauen des Krieges bekam für uns Kinder immer wieder abenteuerliche Züge. Es war, so scheint es mir im Rückblick – alles in allem –, eine unbeschwerte Zeit. Unser Überlebensglück bleibt mir noch heute irgendwie ein Rätsel.
Aufgezeichnet von Hans-Rüdiger Karutz
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