Familie in Potsdam in Quarantäne: Seit sechs Wochen keinen Schritt vor die Tür gemacht
Eine fünfköpfige Familie aus Neu Fahrland ist seit über 40 Tagen isoliert, weil Potsdam in der Coronakrise besonders restriktiv vorgeht.
- Carsten Holm
- Florian Kistler
Potsdam - Wenigstens haben sie diesen Balkon. Seit fünf Wochen und sechs Tagen harren Ramona Franke und Thomas Lemke mit ihren drei Kindern in ihrer Vier-Zimmer-Wohnung in Neu Fahrland aus. Sie dürfen ihr Zuhause nicht verlassen, weil sie unter Quarantäne gestellt wurden. Ramona Franke ist Krankenschwester im Bergmann-Klinikum, sie hat sich Ende März während ihrer Arbeit mit dem Coronavirus infiziert.
Ihre Kinder, zwei Jungen im Alter von zwei und fünf Jahren und eine acht Jahre alte Tochter, sind wie ihre Eltern von Freunden isoliert. Der Fünfjährige möchte endlich wieder Fahrrad fahren, er reagiert inzwischen schon mal mit einem Wutanfall, wenn seine Eltern es ihm nicht erlauben. „Die Kinder sind nach der langen Zeit oft traurig und lustlos, sie haben jeden Elan verloren“, erzählte Ramona Franke am Freitag den PNN.
[Wenn Sie alle aktuellen Entwicklungen zur Coronavirus-Krise live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere runderneuerte App, die Sie hier für Apple-Geräte herunterladen können und hier für Android-Geräte.]
Oma bringt Süßigkeiten an die Tür
Der Balkon in der dritten Etage ist die einzige unmittelbare Verbindung der Familie zur Außenwelt, es ist ihr Ausguck in eine größtenteils coronafreie Welt. Immerhin ist der Balkon groß genug, um dort Abendbrot zu essen, den Blick hinüber zum nahen Waldstück schweifen zu lassen oder, was bisweilen schmerzhaft ist, hinab zu sehen in den Innenhof, in dem Nachbarskinder spielen. Einmal wöchentlich aber strahlen die Kinder, wenn sie weit unter sich eine vertraute Stimme hören: Dann kommt Oma Karin vorbei und spricht mit den Abgeschiedenen oben. Bevor sie geht, macht sie sich hinauf in den dritten Stock, um ein paar Süßigkeiten vor der Tür abzulegen.
Die 38 Jahre alte Ramona Franke hat nicht gleich zu Beginn mit ihrem Schicksal gehadert. „Ich bin seit 18 Jahren im Bergmann-Klinikum, ich war immer gern Krankenschwester, und es gehört zum Berufsrisiko, dass man sich infiziert“, sagt sie, „aber nach vier Wochen kann man es in den eigenen vier Wänden nicht mehr ertragen, vor allem, weil wir alle völlig gesund und ohne Symptome sind.“
Strenges Vorgehen in Potsdam
Kann das sein? Seit Wochen symptomfrei und trotzdem noch immer in Quarantäne? Der Fall zeigt exemplarisch, wo die Schwächen der sonst funktionierenden Virusbekämpfung zu orten sind: in der schematischen Bewertung von individuellen Einzelfällen. Zudem scheint die Dauer der von den Gesundheitsämtern verordneten Quarantäne auch vom Wohnort abhängig zu sein. Potsdam geht offenbar bei der Auslegung der Empfehlungen des Robert Koch-Instituts restriktiver vor als andere Kommunen. Denn hier gilt der Grundsatz, dass Beschäftigte in der Medizin erst wieder aus der Quarantäne entlassen werden, wenn sie zwei negative Abstriche vorweisen können.
Die Krankenschwester Ramona Franke hatte am Abend des 28. März Schüttelfrost und Fieber. Sie wurde positiv getestet. Da hatte sie schon ihren Lebensgefährten, den 40 Jahre alten Kraftfahrer Thomas Lemke, und ihre Kinder unter Quarantäne gestellt. Lemke und die Kinder blieben, bis auf die Tochter, die am 12. April 38,9 Grad Temperatur und Kopfschmerzen hatte, symptomfrei, getestet wurden sie nicht. Für sie selbst begann eine schwer auszuhaltende Achterbahnfahrt: ein Kontrollabstrich positiv, der nächste und übernächste auch, dann ein negativer, dann wieder ein positiver. „Aber ich bin seit dem ersten Test symptomfrei“, sagt Ramona Franke.
Endlich raus und arbeiten
Die Krankenschwester ist davon überzeugt, dass die Viren, die bei den Tests identifiziert werden, seit Längerem nicht mehr aktiv sind. Sie kann es „nicht begreifen“, dass weder ihre Familie getestet noch sie selbst auf Antikörper untersucht werden soll. „Man muss sich solche Einzelfälle wie mich doch genau anschauen“, sagt sie, „man muss mir doch nachweisen, dass es noch aktive Viren gibt“. Laut Robert Koch-Institut seien solche Einzelprüfungen möglich. Ihr Partner und sie „wollen ’raus aus der Quarantäne und endlich wieder arbeiten. Wir haben seit sechs Wochen Krankengeld bezogen, aber das hört jetzt auf, und dann wird es knapp“.
Nicht weit weg von der Landeshauptstadt wird anders entschieden. Andrea Metzler, Sprecherin des Landkreises Potsdam-Mittelmark und Mitarbeiterin des Krisenstabs Corona, erklärte auf Anfrage, wie dort verfahren wird: Die Entlassung aus der häuslichen Quarantäne erfolge „14 Tage nach Symptombeginn und Symptomfreiheit seit mindestens 48 Stunden bezogen auf Covid-19“. Falle trotzdem ein Test positiv aus, sei „nicht zwingend davon auszugehen, dass damit auch das Vorhandensein größerer Mengen von vermehrungsfähigen Sars-CoV2-Viren und eine Infektiosität für Dritte einhergeht“. Das Gesundheitsamt könne in Rücksprache mit dem Labor „den jeweiligen Einzelfall bewerten“.
Im Nachbarkreis andere Regelungen
Klar sind die Regeln in Mittelmark auch für Medizinmänner und -frauen. Das „jeweilige Krankenhaus“ entscheide, wann Mitarbeiter nach einer Coronainfektion im medizinischen Bereich eingesetzt würden – nach intern aufgestellten Regeln, die sich „am Wissensstand des Robert Koch-Instituts in Abstimmung mit dem zuständigen Gesundheitsamt“ orientierten.
Es gibt Ärzte, die ebenso wie Krankenschwestern unter den strengeren Potsdamer Regeln leiden. Eine Medizinerin, die bereits seit rund drei Wochen unter Quarantäne gestellt wurde, schilderte den PNN, dass 14 zusätzliche Quarantänetage für ihre Kinder erst begännen, sobald sie selbst zwei negative Tests überstanden habe. Ihre Kinder seien dann insgesamt 38 Tage in Quarantäne.
Im Landkreis Teltow-Fläming, so die Ärztin, würden medizinische Beschäftigte nach 14 Tagen ohne Abstriche aus der Quarantäne entlassen. „Was soll ich tun?“, fragt sie, „soll ich meinen Arbeitgeber um einen Aufhebungsvertrag bitten, um nicht mehr medizinisches Personal zu sein?“. Ein Wohnortwechsel nach Teltow „erscheint in Quarantäne ungleich viel aufwendiger.
Potsdam ist sich der strengen Regelung bewusst
Dass die Quarantäne-Empfehlungen in Potsdam offenbar besonders rigide ausgelegt werden, kommt nicht von ungefähr. Eine Ursache ist der Coronaausbruch im Bergmann-Klinikum; dort starben bislang 44 Menschen an und mit Coronainfektion. Der Stadt sei „bewusst”, dass es „in vereinzelten Fällen zu einer Quarantänedauer von mehreren Wochen kommen kann”, heißt es in einer Pressemitteilung des Rathauses auf eine Anfrage der PNN vom 29. April. Und weiter: „Durch das Ausbruchsgeschehen in Potsdam sowie die Sondersituation als Hotspot des Landes Brandenburg” halte sich die Stadt „stringent an die Vorgaben des RKI und setzt die Regelungen derart streng um”.
"Zunehmender Unmut in der Bevölkerung"
Das Potsdamer Gesundheitsamt hat zudem auch das RKI über die schwierige Situation unterrichtet. In einer Mail vom 25. April, die den PNN seit dem 29. April vorliegt, heißt es bemerkenswert offen: „Das Gesundheitsamt muss sich zunehmend mit der Frage auseinandersetzen, vermeintlich die Quarantäne für einen zu langen Zeitraum ausgesprochen zu haben.” Es komme bei strenger Auslegung der Kriterien des RKI, je nach Größe der Familie, zu einer Quarantänedauer von bis zu sechs Wochen. „Dieses sorgt für einen zunehmenden Unmut in der Bevölkerung, so dass bereits juristische Maßnahmen angedroht wurden.” Das Potsdamer Amt weist auf ein weiteres Problem hin: „Erschwerend kommt hinzu, dass jedes Gesundheitsamt eigene Auslegungen der Empfehlungen umsetzt, so dass wir zunehmend in Argumentationsschwierigkeiten kommen.” Geändert wurde die Praxis aber bislang nicht.