zum Hauptinhalt
Bei den letzten DDR-Kommunalwahlen am 07. Mai 1989 gibt eine Frau in einem Wahllokal in Ost-Berlin ihre Stimme ab. Am Abend stellt sich heraus: Das Wahlergebnis war gefälscht.
© Roland Holschneider/dpa (Archiv)

Letzte Kommunalwahl in der DDR: Potsdamer Pfarrer machte Wahlbetrug öffentlich

Hans-Joachim Schalinski dokumentierte den Betrug bei der letzten DDR-Kommunalwahl in Potsdam am 7. Mai 1989 und erstattete Anzeige. Die Verantwortung wollte keiner übernehmen, aber Schalinski ließ nicht locker.

Potsdam - Als Hans-Joachim Schalinski zum ersten Mal in seinem Leben wählen geht, ist er 44 Jahre alt. Nicht dass er eine wirkliche Wahl gehabt hätte an jenem 7. Mai 1989. Den sogenannten Stimmzettel mit dem Wahlvorschlag der Einheitsliste für die Potsdamer Stadtverordnetenversammlung hätte Schalinski in dem Wahllokal in einer Gaststätte in Potsdam-Waldstadt eigentlich nur falten und in die Urne stecken müssen. Platz für Kreuze gab es nicht. Schalinski, damals Pfarrer der Sternkirchengemeinde, machte sich schon mit dem Gang in die Wahlkabine verdächtig. Dort strich er jeden einzelnen Namen durch. Das war wichtig, weil der Zettel bei einem stehengebliebenen Namen als gültige Stimme gewertet worden wäre, erklärt er: „Ich habe mit Nein gewählt.“ Und das war erst der Anfang.

Auch bei der Stimmenauszählung an jenem Abend war Schalinski im Wahllokal – als Beobachter. Nach der Auszählung war klar: Gut acht Prozent der Wähler hatten dort mit Nein gestimmt. So wie Schalinski gab es an jenem Tag etliche Wahlbeobachter, darunter viele Jugendliche.

Angst vor den möglichen Folgen habe er damals nicht gehabt, sagt Schalinski. Als Pfarrer habe er immer gewisse Freiräume gehabt, sich auch vorher zum Beispiel in Gemeindebriefen zu politischen Fragen wie der Rüstungspolitik geäußert. Es war eher so etwas wie der Mut der Verzweiflung, der ihn und die anderen angetrieben hat.

In der DDR herrschte ´89 Stillstand

Im Jahr 1989 sei die Unzufriedenheit mit den Zuständen aber insgesamt größer geworden, erzählt er. Während es in anderen Ostblock-Staaten Veränderungen gab – in Polen durch die Solidarnosc-Bewegung von unten, in der Sowjetunion mit der Perestroika von oben –, herrschte in der DDR Stillstand. „Wir hatten das Gefühl, dass wir nicht mehr atmen können“, beschreibt es Schalinski.

Bei der an der Babelsberger Friedrichskirche entstandenen Gruppe „Kontakte“ war Schalinski dann auf Gleichgesinnte getroffen. Von dort ging auch die Initiative zur Wahlbeobachtung aus. In 42 Wahllokalen beobachteten Schalinski und andere Potsdamer, darunter auch Baustadtrat Detlef Kaminski und Schalinskis Pfarrerkollege Hans-Georg Baaske, am 7. Mai die Auszählung der Wählerstimmen.

Wahlbetrug von oberster Stelle

Überall lag der Anteil der Nein-Stimmen zwischen acht und zehn Prozent, erinnert sich Schalinski. Als von offizieller Seite dennoch das erwartbare 99-Prozent-Ergebnis verlautbart wurde, stand fest: Es war an höherer Stelle betrogen worden. Für die Wahlbeobachter, die sich abends im Gemeindesaal in Babelsberg trafen, war das keine Überraschung: „Unsere Erwartungen hatten sich erfüllt“, sagt Schalinksi. Aber: Der Wahlbetrug war erstmals dokumentiert worden.

Doch wohin mit den Beweisen? Schalinski und seine Mitstreiter versuchten es auf offiziellem Wege. „Wir haben eine Nachfrage gestellt“, erzählt er. Die erste Reaktion kam recht schnell: Am Mittwoch nach der Wahl waren Schalinski und Kaminski zum Gespräch beim damaligen Oberbürgermeister Wilfried Seidel. Der holte während des Zusammentreffens eines der Wahlprotokolle heraus, wobei sich die von den Wahlbeobachtern notierten Zahlen und damit der offizielle Betrug bestätigte. Seidel habe sich dann aber für nicht zuständig erklärt. Das Stadtoberhaupt musste wenig später, am 22. Mai, auf Betreiben der SED-Kreisleitung seinen Sitz räumen.

"Haben Sie kein Vertrauen?"

Und so ging es weiter. Ein Vorsprechen im Büro der Nationalen Front am heutigen Luisenplatz, die damals für die Durchführung der Wahlen zuständig war, zeigte keinerlei Wirkung, wie Schalinski berichtet. „Haben Sie kein Vertrauen?“, sei er nur gefragt worden. Per Einschreiben hatte er sich auch an alle 200 Stadtverordneten gewandt: „Damit der Wahlbetrug bekannt wird.“ Auch diese Aktion führte zu nichts. Viele der Briefe kamen ungeöffnet zurück. Kaminski und Schalinski schalteten schließlich den Generalstaatsanwalt in Berlin ein, der den Fall zurück an seinen Potsdamer Kollegen verwies. Die Ermittlungen wurden irgendwann eingestellt, „weil kein Anfangsverdacht besteht“, erzählt Schalinski: „Keiner wollte Verantwortung übernehmen.“

Hans-Joachim Schalinski dokumentierte in Potsdam den Wahlbetrug während der letzten Kommunalwahl in der DDR.
Hans-Joachim Schalinski dokumentierte in Potsdam den Wahlbetrug während der letzten Kommunalwahl in der DDR.
© Ottmar Winter/PNN

Aber die Gruppe „Kontakte“ ließ nicht locker: „Für uns war klar: Es muss etwas passieren, so geht es nicht weiter.“ Beim Pfingstfest in Caputh machte Schalinski den Wahlbetrug erstmals im Gottesdienst öffentlich, bat seine Zuhörer, das auch in die Betriebe weiterzutragen. „Damit war etwas gezündet, was nicht mehr aufhaltbar war“, sagt er heute. Die Bewegung wuchs, in Gruppen wie zum Beispiel der Gruppe „Recht“ in der Waldstadt wurde darüber diskutiert, wie eine veränderte DDR aussehen könnte. Im September sollte sich das Neue Forum als neue politische Kraft gründen.

Potsdamer gingen am 7. Oktober auf die Straße

Und trotzdem waren es dann die Jugendlichen, die in Potsdam zuerst auf die Straße gingen, am 7. Oktober. Hans Schalinski war mit dabei – und fühlte erstmals auch Angst. „Aber ich konnte die Jugendlichen nicht allein lassen“, sagt er. Mit seiner Schwiegermutter habe er abgesprochen, dass sie sich um die drei Kinder kümmern würde, sollten er und seine Frau verhaftet werden. Tatsächlich kam es nach der Demonstration zu mehr als 100 Festnahmen, Polizisten jagten die Demonstranten durch die Innenstadt. Aber die Gewalt konnte die Entwicklung nicht mehr stoppen. Bei der nächsten Großdemo am 4. November waren mehrere tausend Potsdamer auf der Straße.

Die Revolution 1989 bezeichnet Schalinksi heute als „eine Gnadenstunde der Geschichte“. Dass 30 Jahre später, wo freie Wahlen eine Selbstverständlichkeit sind, viele davon nicht Gebrauch machen, stimmt ihn nachdenklich: „Viele sind müde geworden.“ Sorgen bereitet ihm auch, dass rechtsnationale Bewegungen wie Pegida an die Demonstrationen von 1989 anknüpfen wollen: „Der Aufbruch kann doch nicht sein, dass man in der Straße Hass schreit“, sagt er.

"Fridays for Future" stimmt ihn hoffnungsvoll

Gleichzeitig sieht der 74-Jährige angesichts von globalen Herausforderungen wie der Klimakrise die Notwendigkeit zu Veränderungen. „Die Parteiendemokratie hat sich in ihren Streitigkeiten überlebt“, sagt er und wirbt für die Wiederentdeckung einer anderen Idee aus dem Herbst 1989: die der Runden Tische. Parteien müssten sich „zusammensetzen und überlegen, was können wir ändern“, findet er.

Hoffnungsvoll stimmt den Potsdamer die Jugendbewegung von „Fridays for Future“: „Da ist jemand, der nicht nur auf sich guckt und sein eigenes kleines Elend.“ Umso wichtiger sei es, „den Hilferuf und den Mut der Jugendlichen nicht klein zu machen und nur von Schulschwänzen zu sprechen“, betont er.

„Wenn diese Masse der Jugendlichen wieder die Menschenherzen erreicht, dann kann sich mit Macht das Gesicht der Erde verändern.“ Und dann zitiert Hans Schalinski aus dem Lied von Gerhard Schöne: „Alles muss klein beginnen. Lass etwas Zeit verrinnen, es muss nur Kraft gewinnen und endlich ist es groß."

Zur Startseite