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Antisemitismus in Deutschland: Potsdamer Historiker Schoeps: „Anormalität ist die Normalität"

In Deutschland gibt es heute wieder ein vielfältiges jüdisches Leben. Warum es dennoch nicht frei von antisemitischen Anfeindungen ist, wie sich die Judenfeindschaft äußert und welche Rolle die Geschichte dabei spielt, erklärt der Potsdamer Historiker Julius H. Schoeps.

Herr Schoeps, wie steht es heute um das jüdische Leben in Deutschland?

Die Entwicklung der letzten 25 Jahre war überraschend dynamisch, dank der Zuwanderung russischsprachiger Juden aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, vor allem während der 1990er Jahre. Diese Zuwanderung hat in vielen Städten die lokalen jüdischen Gemeinden stabilisiert und sie häufig auch wachsen lassen. Eine Reihe neuer Synagogen konnten gebaut werden, jüdische Kindergärten und Schulen wurden eröffnet. Das alles stimmt hoffnungsvoll, und es gibt noch immer überraschende Neuigkeiten. Wer hätte etwa vor 10 oder 15 Jahren damit gerechnet, dass sich Israelis in größerer Zahl in Berlin niederlassen? Die Schätzungen über ihre Zahl schwanken heute zwischen 10 000 und 30 000. Man weiß nicht ganz genau, wie viele es sind.

Also ist eine gewisse Normalität erreicht?

Es ist immer die Frage, was man unter „Normalität“ verstehen will. Die jüdische Gemeinschaft hat sich in Deutschland halbwegs stabilisiert, keine Frage. Zahlenmäßig handelt es sich gleichwohl nur um einen Bruchteil jener Gemeinschaft, die es vor 1933 in Deutschland gab. Allerdings hat das heutige Judentum in Deutschland mit den Einsteins, Liebermanns und Mendelssohns von damals kaum noch etwas gemein. Wenn wir über Normalität im Verhältnis von Juden und Nichtjuden sprechen wollen, dann wird es schon schwieriger. Ich neige zu der Feststellung: Die Anormalität ist die Normalität. Empirisch belegbar ist, dass seit einigen Jahren wieder eine hochgradige Verunsicherung durch den erneut wachsenden Antisemitismus eingetreten ist. Ich würde sogar noch einen Schritt weiter gehen und sagen: Der Antisemitismus scheint integraler Bestandteil der deutschen Kultur zu bleiben. Es ist extrem schwierig, ihn zu bekämpfen, und im kulturellen Denken und Fühlen gibt es da leider auch eine lange, verhängnisvolle Tradition. Nehmen Sie Gustav Freytag, Wilhelm Busch oder auch den seligen Martin Luther. Egal, wo man hinblickt: Sprache, Lieder, Gedichte - überall findet man antijüdische Stereotypen, die tief verwurzelt sind und das Denken der Menschen bis heute bestimmen.

Konnten Sie seinerzeit den Thesen von Daniel Goldhagen, die Deutschen als Hitlers willige Vollstrecker, dem kollektiven Vorurteilsdenken der Deutschen gegenüber Juden, dem tief in der deutschen politischen Kultur wurzelnden Vernichtungsantisemitismus, folgen?

Durchaus. Ich war einer der wenigen, die ihn damals bei seinen Thesen in Deutschland nicht kritisiert, sondern unterstützt haben. Mit Goldhagen teile ich die Auffassung, dass die antijüdischen Vorurteile sehr tief sitzen, immer noch. Und manchmal exponiert sich zumindest ein Teil der deutschen Gesellschaft mit obsessiver Kritik an der jüdischen Religion. Besonders deutlich war das bei der so genannten „Beschneidungsdebatte“ vor vier Jahren.

Goldhagen traf Mitte der 1990er Jahre in Deutschland auf starke Ablehnung, gerade von den etablierten Wissenschaftlern. War das auch eine Form von Antisemitismus?

Mit Sicherheit. Bei seinen jungen Zuhörern stieß er hingegen auf großen Zuspruch, vielleicht, weil er selbst damals noch ein junger Mann war und eine entsprechend jugendliche Ausstrahlung hatte. Seine Feststellung, dass ganz „normale“ deutsche Männer wie Frauen sich in der NS-Zeit an den Juden bereicherten, diese willentlich misshandelt und ermordet haben, irritierte damals die deutsche Öffentlichkeit. Goldhagen stellte unangenehme, aber auch sehr nötige Fragen. Und fand unbequeme Antworten. In dem von ihm untersuchten Reserve-Polizei-Bataillon 101 fanden sich eben nicht nur eingefleischte Nazis, sondern ganz normale Durchschnittsbürger. Einige von ihnen erfüllten ihre Mordtaten mit Stolz, sie hatten kein Unrechtsbewusstsein, fühlten sich zu ihren Taten geradezu aufgefordert.

Die Nazis mussten den Vernichtungsantisemitismus also nicht erfinden?

Jedenfalls stießen sie auf viel Resonanz bei ihrer Ausgrenzung der jüdischen Minderheit, die sich ja in den 1930er Jahren immer weiter verschärfte. Auch von kirchlicher Seite brach damals plötzlich wieder eine massive Judenfeindlichkeit durch. Kurz nach der Pogromnacht 1938 verschickte beispielsweise der damalige thüringische Landesbischof Martin Sasse einen Rundbrief an seinen Sprengel, in dem er jubelte, dass an Luthers Geburtstag, dem 10. November, in Deutschland die Synagogen brennen.

Die Deutschen haben nach dem Holocaust doch einen starken Wandel vollzogen.

Einiges hat sich ganz sicher bewegt. Das Jahr 1945 war aber keine Stunde null, kein wirklicher Neuanfang. Was den millionenfachen Mord an den europäischen Juden betraf, so hat ihn die Gesellschaft lange Zeit verdrängt. Niemand wollte dafür Verantwortung übernehmen. Mörder gingen straffrei aus, und die Masse der Bevölkerung einigte sich darauf, von 1933 bis 1945 eben von Hitler und den Nazis verführt worden zu sein. Relativ spät haben dann zumindest Teile der Kirchen versucht, ihr Verhältnis zum Judentum neu zu ordnen. An einigen dieser Debatten in der evangelischen Kirche war ich selbst als jüdischer Gesprächspartner mitbeteiligt. 1980 gab es beispielsweise den wegweisenden Synodalbeschluss Rheinland „zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden“. Ich war damals der Ansicht, es sei etwas in Bewegung geraten – und zwar positiv.

Und nun?

Sicher, die Kirchen verurteilen antisemitische Erscheinungen heute sehr entschieden. Andererseits beteiligen sich aber einige ihrer Vertreter auch am allgemeinen „Israel-Bashing“, bei dem Israel zum Unrechtsstaat per se und zum großen und alleinigen Problemfaktor im Mittleren Osten stilisiert wird. Man wird das Gefühl nicht los, dass hier zunehmend die Relationen verloren gehen, und es zu einem allgemeinen Rollback in der Gesellschaft gekommen ist. Man kann Israel kritisieren – und damit auch die Juden.

Sind auch die Äußerungen von Thüringens AfD-Chef Björn Höcke Anzeichen dieses Rollbacks?

Björn Höckes Formulierung von einem „Denkmal der Schande“, womit er das Holocaust-Mahnmal in Berlin gemeint hat, ist raffiniert und juristisch kaum anfechtbar ausgedrückt. Aber was wollte er, bitteschön, mit seiner Forderung nach einer „erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad“ tatsächlich ausdrücken? Heißt das, dass ein Schlussstrich gezogen werden soll? Will Höcke damit sagen, dass das Thema ein für allemal abgehakt ist?

Aus welchen Milieus kommt der Antisemitismus heute in Deutschland?

Der Antisemitismus ist facettenreicher geworden, und er ist schon längst nicht mehr das alleinige Spielfeld der extremen Rechten. Die Studie der Berliner Linguistin Monika Schwarz-Friesel, die Hunderte Emails an den Zentralrat der Juden und an die Israelische Botschaft in Berlin systematisch auswerten konnte, hat eines sehr klar gemacht: Das volle Spektrum antijüdischer Vorurteile – von den Gottesmördern, Wucherern, Kulturzerstörern bis hin zu den Weltverschwörern – ist in den Köpfen der Deutschen nach wie vor präsent, sehr stark auch in der Mitte der Gesellschaft. Und die Leute stehen zu ihren Vorurteilen und Feindbildern, viele der E-Mail-Schreiber haben kein Problem damit, etwa ihren Beruf und ihre Herkunft mit anzugeben.

War es also naiv zu glauben, die Bundesrepublik habe spätestens in den 1980er Jahren das Antisemitismus-Problem überwunden?

Damals geriet viel in Bewegung, es gab viel Engagement und das Bemühen, sich den Problemen zu stellen, auch bei den Theologen. Das will ich nicht in Abrede stellen. Die Bemühungen nahmen zu, die NS-Geschichte aufzuarbeiten. Gerade nachdem die Serie „Holocaust“ Ende der 1970er Jahre in den dritten Programmen des Fernsehens ausgestrahlt wurde, setzte eine breite Debatte über die NS-Vergangenheit und den Umgang mit ihr in Deutschland ein. Wir alle dachten, eine neue Zeitrechnung hätte begonnen.

Aber?

Im Rückblick sehe ich das heute etwas differenzierter. In erster Linie war es nicht der Schock, den die Fernsehserie „Holocaust“ auslöste, sondern der Generationenwechsel, der zum Umdenken führte. Als die NS-Väter die Verantwortung abgaben, begann so mancher Sohn unbequeme Fragen zu stellen. Zumindest bei einigen hatte man das Gefühl, dass ein Umdenken eingesetzt und der Antisemitismus ein Relikt der Vergangenheit sei. Offensichtlich haben wir uns da aber getäuscht.

Was ist denn heute anders?

Zunächst einmal fällt auf, dass in den Debatten wieder anders und offener geredet wird. Ich erlebe es immer wieder persönlich, dass Menschen, die sich für gebildet und aufgeklärt halten, mich als deutschen Juden ansprechen und dann schon im dritten Satz ihr Unverständnis, ihre Wut und manchmal auch ihren Hass auf Israel loswerden müssen.

Und dann?

Ich versuche dann ruhig zu bleiben und meinen Gesprächspartnern zu erklären, dass ich kein israelischer Staatsbürger bin, in Israel also auch nicht wählen gehe und folglich auch kein Akteur im Nahost-Konflikt bin. Freunde von mir machen ähnliche Erfahrungen, und dieses „Israel-Bashing“ gehört heute fast schon zum guten Ton. Damit haben auch Mainstream-Medien kein Problem, wie schon vor Jahren die Israel-Kommentare von Jakob Augstein oder diverse Karikaturen in der Süddeutschen Zeitung gezeigt haben. Und immer wieder lese ich, ebenfalls in den Mainstream-Medien, von einem „Kreislauf der Rache“, in den Israel verstrickt sei, von „Davids Rächern“, wenn es um israelische Geheimdienst-Aktionen geht, von „unverhältnismäßigen israelischen Luftschlägen“, ohne dass die Hintergrundgeschichte zur Sprache kommt.

Klingt fast schon nach Kampagne?

Ich will den Medien das nicht grundsätzlich unterstellen, aber natürlich ist es für den einen oder anderen sehr verlockend, Israel mit seinen politischen Problemen als Projektionsfläche für die eigene Schuldabwehr wie auch für populäre „Schlussstrichdiskussionen“ zu nutzen. Höchst irritierend war es für mich, dass nach einem Brandanschlag auf die Synagoge von Wuppertal im Sommer 2014 die überführten palästinensischen Täter vom Gericht zugebilligt bekamen, letztendlich aus politischem Frust, nicht aber aus antisemitischen Motiven gehandelt zu haben. Man fragt sich, was in den Köpfen von Staatsanwälten und Richtern vorgeht, die so argumentieren. Der Angriff galt, wohlgemerkt, nicht einer diplomatischen Vertretung des Staates Israel, sondern einem jüdischen Gotteshaus in Deutschland. Und das gibt doch sehr zu denken.

Die jüdischen Gemeinden zählen in Deutschland heute gerade mal 100 000 Mitglieder...

Ja, und es spielt keine wirkliche Rolle, dass es so wenige sind. Zusammen mit den nicht in Gemeinden aktiven Juden sind es vielleicht gerade mal 200 000 Juden, die in Deutschland leben. Aber der Antisemitismus braucht nicht, wie wir wissen, den realen Juden: Es handelt sich um eine fixe Figur in den Köpfen, der man alles Übel zuschieben kann.

Davon kommen wir also nicht weg?

Das ist wohl so. Ob es überhaupt eine Möglichkeit gibt, den Antisemitismus effizient zu bekämpfen, ist fraglich. Ich bin sehr skeptisch geworden. Andererseits bemühen wir uns, so am Potsdamer Moses Mendelssohn Zentrum, um Aufklärung, weil wir etwas gegen den Antisemitismus tun wollen. Ich sehe gegenwärtig keine andere Möglichkeit, als weiterzumachen, auch wenn, und das ist keine neue Erkenntnis, der Aufklärung Grenzen gesetzt sind.

Israel prangert den Antisemitismus in Deutschland gegenwärtig an. Die Frage, ob die beiden Länder zusammenkommen können, beantworten Sie in einer aktuellen Publikation mit: erstaunlich gut. Wie das?

Hier müssen wir eine deutliche Unterscheidung vornehmen zwischen antisemitischen Straftaten und akuten, existentiellen Bedrohungen auf der einen Seite und latent antisemitischen Einstellungen auf der anderen. Gravierende antisemitische Straftaten – etwa im Sinne von körperlichen Attacken oder auch direkten Angriffen auf jüdische Einrichtungen - gibt es in Deutschland, aber sie sind noch eher selten, verglichen beispielsweise mit Vorfällen in Frankreich, Belgien und anderen Ländern.

Aber?

Einige israelische Spitzenpolitiker schließen aus antijüdischen Vorfällen in verschiedenen Ländern, dass ganz Europa quasi schon in Flammen steht. Das ist mir zu apokalyptisch, zu übertreiben. Nicht jeder israelische Politiker spricht so. Im Allgemeinen ist das Verhältnis zwischen deutschen und israelischen Politikern, Wissenschaftlern, Künstlern und vielen anderen Gruppen recht gut und kreativ, und so beschreiben wir das auch in unserem Sammelband „Deutschland, die Juden und der Staat Israel“.

Trotz der Warnungen in Israel ziehen heute viele junge Israelis nach Berlin.

Richtig, und damit sind wir wieder beim Ausgangspunkt unseres Gesprächs. Es kommen derzeit wohl deutlich mehr Israelis nach Deutschland, vor allem nach Berlin, als umgekehrt deutsche Juden nach Israel ziehen. Die jungen Israelis lieben Berlin als europäische Metropole, und nicht wenige von ihnen stammen von während der NS-Zeit geflohenen deutsch-jüdischen Familien ab. Sie erschließen sich heute ein Stück Familiengeschichte, und manche bezeichnen sich ganz selbstbewusst auch als „Rückkehrer“. Das ist eine interessante Entwicklung, und ich bin gespannt, welche Wirkungen die Gruppe der zuwandernden Israelis langfristig auf das Judentum in Berlin – oder auch in Deutschland insgesamt – haben wird.

Das Gespräch führte Jan Kixmüller

Zur Person: Julius H. Schoeps (74) ist Historiker und Politikwissenschaftler. Bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2007 hatte er an der Universität Potsdam die Professur für Neuere Geschichte (Schwerpunkt deutsch-jüdische Geschichte) inne. Er ist Gründungsdirektor des Moses Mendelssohn Zentrums für europäisch-jüdische Studien an der Universität Potsdam und Vorstandsvorsitzender der Moses Mendelssohn Stiftung. Schoeps wurde 1942 im schwedischen Exil geboren, sein Vater ist der Historiker Hans-Joachim Schoeps. Zu Schoeps Vorfahren zählt unter anderem auch der Philosoph und Aufklärer Moses Mendelssohn. Zuletzt von Schoeps erschienen: „Begegnungen“ (Suhrkamp Verlag) und „Deutschland, die Juden und der Staat Israel“ (herausgegeben zusammen mit Olaf Glöckner, Georg Olms Verlag). PNN

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