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Julius H. Schoeps ist Gründungsmitglied der Universität Potsdam und Gründungsdirektor des Moses Mendelssohn Zentrums für europäisch-jüdische Studien (MMZ).
© M. Thomas

Interview zu 70 Jahre Kriegsende: "Es gab keine Stunde null"

Der Potsdamer Historiker Julius H. Schoeps sieht im Ende des Nationalsozialismus keinen Schlusspunkt. Der Nazismus habe Kontinuität bis in die 1960er Jahre gebracht. Letztlich leide Deutschland noch heute unter den Nachwirkungen dieser Zeit, schildert Schoeps im Interview.

Herr Schoeps, ist die Frage nach dem Warum von Nationalsozialismus und Holocaust heute nicht genauso unbeantwortet wie in den Jahren nach Kriegsende?
Das kann man wohl so sagen. In den Medien geht es zurzeit um eine Neudeutung der Ereignisse, etwa in der Neuverfilmung von „Nackt unter Wölfen“. Der DDR-Film von 1962 vertrat noch die These, dass sich die Häftlinge des KZ Buchenwald selbst befreit hätten, während wir heute wissen, dass es die US-Streitkräfte waren, die das Lager befreiten.

Welche Fragen haben wir heute?
Heute beschäftigt uns zunehmend die Frage, wie der Zusammenbruch des NS-Regimes eigentlich zu bewerten ist. Ich denke zum Beispiel daran, wie waren eigentlich die letzten Monate und Wochen vor dem Sieg der Alliierten? Damals schickten die SS und die Lagerkommandanten die Häftlinge auf Todesmärsche ins Nirgendwo, auf denen viele von ihnen an Erschöpfung starben oder von den sie begleitenden Wachmannschaften umgebracht wurden. Wenig thematisiert ist in diesem Zusammenhang, dass dabei auch ganz normale Bürger, die am Wegesrand standen, ihren Frustrationen an den vorbeiziehenden Häftlingen abreagiert haben. Überliefert ist, dass manche dieser Gaffer, die sogenannten „Bystanders“, wie es in der angelsächsischen Literatur heißt, sich dazu hinreißen ließen, mit Knüppeln und Äxten einzelne der Vorbeiziehenden totzuschlagen.

Was zeigt …
… wie verinnerlicht das System und die NS-Ideologie unter den Deutschen war. Ich denke, wir leiden heute noch unter den Nachwirkungen dieser Zeit. Die Proteste der 68er-Generation waren beispielsweise eine Reaktion auf die nicht verarbeitete NS-Vergangenheit der Umgebungsgesellschaft. Es war, wenn man so will, ein Protest gegen die NS-Vergangenheit der Väter. Das wird im Rückblick immer deutlicher.

Inwiefern leiden wir heute noch darunter?
Weil die Frage nach dem Warum nach wie vor nicht geklärt ist. Die Zahl der Bücher, Filme und Konferenzen, die das thematisieren, übertrifft alle Vorstellungen. Auffällig ist in diesem Zusammenhang ein Sachverhalt, der ebenfalls Fragen aufwirft. Warum interessieren sich die Deutschen so für den Nahostkonflikt? Das steht, wie ich meine, in keiner Relation zu den Stellungnahmen, die zu anderen Konflikten in der Welt abgegeben werden. Warum ist das so? Ich glaube, das hängt damit zusammen, dass das Interesse mancher Deutscher am Nahost-Konflikt – Stichwort: „Die Juden sind ja nicht besser als wir“ – nicht ein Interesse in der Sache ist, sondern in erster Linie mit dem schlechten Gewissen zusammenhängt, das aus der nicht aufgearbeiteten NS-Vergangenheit herrührt.

Man stellt sich aus einem Schuldkomplex heraus auf Seiten Israels?
Nein. Ganz im Gegenteil, man tritt für Palästina und die Palästinenser ein und sieht in den Israelis die Täter. Im Grunde glaubt man, die Israelis würden sich so verhalten wie die Väter oder Großväter in der Zeit des Nationalsozialismus.

Denken Sie dabei auch an den kürzlich verstorbenen Günter Grass, dessen Vater in der NSDAP war, der selbst kurze Zeit in der Waffen-SS diente – hat auch ihn die Vergangenheit wieder eingeholt, als er in seinem umstrittenen Gedicht vor Israel warnte, das den Weltfrieden gefährde?
Günter Grass ist ein Kapitel für sich. Sein im April 2012 veröffentlichtes Israel-Gedicht „Was gesagt werden muss“ hat in der Tat für weltweite Aufregung gesorgt. Ich stimme mit dem US-amerikanischen Schriftsteller Louis Begley überein, der damals bei Grass so etwas wie eine „Moralblindheit“ konstatierte. Aber das ist schon wieder ein anderes Kapitel deutscher Vergangenheitsaufarbeitung.

Historiker sehen die Frage nach den Ursachen des Nazismus heute als weitgehend geklärt.
Na ja, da kann man unterschiedlicher Ansicht sein. Ich bin beispielsweise der Meinung, dass vielfach in den Debatten von falschen Ansätzen ausgegangen wird. Zunehmend bin ich davon überzeugt, dass es sich beim Nationalsozialismus nicht um eine Verschwörung des Monopolkapitals und anderen Unsinn, sondern in erster Linie um eine politische Religion gehandelt hat. Man denke nur an den im Nationalsozialismus angelegten Erlösungsglauben, an die prozessionsartigen Aufmärsche seiner Zeit in Nürnberg, die Lichterdome, die Fackelumzüge, die Weihestätten – das hat im Grunde genommen alles eine erkennbar religiöse Note.

„Gott mit uns“ stand auf den Koppelschlössern der Wehrmachtssoldaten, wobei man sich doch eigentlich als säkulares Regime verstand.
Das scheint so, war es aber in Wirklichkeit nicht. Im Nationalsozialismus schwangen christliche Motive mit. Wer einen Blick in Hitlers Schrift „Mein Kampf“ wirft, stößt auf Passagen, die deutlich machen, dass Hitler sich als eine Art Messias begriff, als den wiederauferstandenen Jesus Christus. Unglaublich eigentlich, dass das kaum jemandem auffiel.
Heute sieht es so aus, als sei alles geschickt von der NS-Propaganda inszeniert und eingefädelt gewesen. Das würde aber voraussetzen, dass alles sehr gut durchdacht war.
Das steht außer Zweifel. Die Nationalsozialisten wussten sehr gut, mit ihren propagandistischen Zielen umzugehen. Was die Wirkung dieser Propaganda betraf, waren das unterbewusst ablaufende Prozesse. Natürlich war und ist die christliche Religion Teil der deutschen Kultur, wenn auch in einer sehr säkular abgemilderten Form. Die damals zum Hitlergruß erhobenen Hände, die sich dem Führer entgegenstreckten, das hatte etwas von Heiligenverehrung.

Die Nazis als Religionsgemeinschaft?
Man kann, so glaube ich, sagen, dass der Hitlersche Nationalsozialismus eine echte Glaubensbewegung war. Diese Bewegung hatte sich alle mythologischen Funktionen einer Religion zu eigen gemacht. Dazu waren unbedingtes Bekenntnis und die totale Unterwerfung erforderlich. Hitler stilisierte sich von Beginn an in die Rolle des erlösenden Führers aller Deutschen. Die Nazis meinten, Hitler sei allmächtig, weil Gott allmächtig ist. Und wenn die Allmacht ein Werk wie die Bewegung des Nationalsozialismus gesegnet habe, dann würden es Menschen auch nicht mehr zerstören können.

Worauf berief sich diese Glaubensbewegung?
In den Reden und Texten Hitlers finden sich zahlreiche Passagen, die ganz offensichtlich gnostischer beziehungsweise apokalyptischer Natur sind. Die Reden Hitlers, in denen er von der Notwendigkeit der Vernichtung der Juden faselt, waren im Duktus der gnostischen Häretiker des frühen Christentums gehalten. Denen stand Hitler vermutlich näher als den europäischen Staatsmännern seiner Epoche. Doch diese haben das nicht erkannt. An die Verschmelzung von Politik und Religion glaubte nicht nur ein Großteil der deutschen Bevölkerung, sondern sogar eine Reihe angesehener Theologen, wie etwa der Neutestamentler Ethelbert Stauffer, der behauptete, Jesus sei arischen Blutes.

Und weiter?
Nun, da ist die Rede von Gut und Böse, Hell und Dunkel, dem jüdischen Dämon stand der arische Lichtmensch gegenüber. Hitler schrieb in „Mein Kampf“: „So glaube ich heute im Sinne des allmächtigen Schöpfers zu handeln, indem ich mich des Juden erwehre, kämpfe ich für das Werk des Herren“. Das war unmissverständlich und sprach die Menschen an.

Also doch das verführte Volk?
Keineswegs. Hitler und die Deutschen bedingten sich gegenseitig. Das Volk suchte sich seinen Führer und der Führer suchte sein Volk. Das passte ganz einfach zusammen.

Hitler war also nicht über Nacht über die Deutschen gekommen?
Es ist ein Mythos, dass ein böswilliger Diktator mit einer Gruppe Gleichgesinnter die Deutschen verführt haben soll. Das Volk wollte es so. Schließlich gab es eine Mehrheit bei der Reichstagswahlen vom März 1933, die Hitler an die Macht brachten. Man war froh, dass jemand die Schmach von Versailles zu tilgen bereit war und die Menschen von Arbeitslosigkeit und Wirtschaftsnot zu befreien versprach.

Es gehörte auch dazu, das Volk zu belügen. Warum fiel das nur so wenigen auf?
Schlicht und ergreifend, weil man an den Führer und seine Botschaft geglaubt hat. Bis zum Schluss. Es gab ja auch nach Ende des NS-Regimes kaum ein Unrechtsbewusstsein bei den Tätern. Es ist interessant, dieser Frage genauer nachzugehen. Mich hat dieses Problem des nicht vorhandenen Unrechtbewusstseins mein Leben lang beschäftigt.

Können Sie das konkretisieren?
Mir fällt der Fall des Literaturwissenschaftlers Hans Schwerte ein, bei dem ich in den 1960er-Jahren in Erlangen studiert habe. Damals wusste ich nicht, um wen es sich bei ihm handelte. Später stellte sich durch die Recherchen eines Journalisten heraus, dass Schwerte eigentlich nicht Schwerte, sondern Hans Schneider hieß und ein ehemaliger SS-Mann war. Dieser Sachverhalt, die Annahme einer anderen Identität, hatte eine Pointe.

Inwiefern?
Nach Ende des Dritten Reiches promovierte Schwerte alias Schneider im Nachkriegsdeutschland noch einmal, und zwar mit einer Arbeit über „Die Deutschen und das Faustische“. Heute weiß ich, was das eigentlich bedeutet hat. Schwerte bemühte sich damals, sich seiner eigenen Vergangenheit zu stellen, einer Vergangenheit, die nicht nur die seine, sondern auch die nicht verarbeitete Vergangenheit der meisten Deutschen war.

Worum ging es dabei?
Nicht nur Goethe hat sich mit dem Faust-Motiv beschäftigt, mit dem selbstquälenden Wesen der Deutschen, die unter ihrem eigenen Ich leiden. In der Literatur ist das immer wieder thematisiert worden. Wenn wir begreifen wollen, was der Nationalsozialismus war, müssen wir uns mit der deutschen Geistesgeschichte befassen, mit der deutschen Kulturgeschichte, mit der Sprachgeschichte, der Religion. Hier finden sich die Antworten auf die uns in diesem Zusammenhang beschäftigenden Fragen.

Zu Kriegsende schickten die West-Alliierten Psychologen an die Front, um herauszufinden, warum die Deutschen angesichts der Niederlage so unbesonnen weiterkämpften, sogar als die Städte ausgebombt waren.
Das lässt sich in der Tat nur sozialpsychologisch erklären, mit dem Akt der vollständigen Unterwerfung unter den Führer. Weil Hitler die Aufgabe hatte, das deutsche Volk zu befreien, wie schon gesagt von der Schmach von Versailles, von allem Schlechten und allen bösen Erfahrungen. Hitler und die Nazis waren fest davon überzeugt, dass die Welt durch die Juden zutiefst verdorben sei, weshalb die Juden geopfert werden müssten – nur so könne, so meinte man damals, das 1000-jährige Reich Wirklichkeit werden.

Die Judenfeindschaft war in Deutschland nichts Neues.
Die war immer schon vorhanden. Der Antisemitismus ist sozusagen integraler Bestandteil der deutschen Kultur. Wenn aus der deutschen Literatur, bei Wilhelm Busch oder Theodor Fontane beispielsweise, bestimmte antisemitische Passagen gestrichen werden, handelt es sich dann noch um Wilhelm Busch oder Theodor Fontane? Wenn man aus dem Neuen Testament die Antijudaismen streicht, ist das dann noch, so muss man sich fragen, das Neue Testament? Natürlich nicht. Hier liegen die eigentlichen Probleme. Die Judenfeindschaft ist tief verwurzelt in der der deutschen Kultur.

Immer noch?
Das hat sich nicht geändert. Umfragen der Soziologen belegen, dass es in der deutschen Bevölkerung bei 15 Prozent offenen Antisemitismus gibt, und dass bei weiteren 30 Prozent Antisemitismus in Latenz vorhanden ist. Der letztere Sachverhalt, der latente Antisemitismus also, hat mich immer sehr beschäftigt. In bestimmten Situationen, beispielsweise durch die Ausstrahlung eines Films, durch die Veröffentlichung eines Buches oder die unglückliche Bemerkung eines Provinzpolitikers kann er zum Ausbruch kommen. Einiges haben wir in den letzten Jahren in dieser Richtung erleben können.

Es ist in der Vergangenheit immer wieder behauptet worden, man habe nichts von Auschwitz gewusst.
Eine reine Schutzbehauptung. Alle wussten, dass es Deportationen gab. Sie konnten niemandem verborgen bleiben. Wer in eine Wohnung einzog, in der noch die Möbel des Vormieters standen, wusste, dass er ein Profiteur war. Ein schlechtes Gewissen hatte man dabei nicht …

… man war ja Teil der Volksgemeinschaft.
Eben, es war genau definiert, wer dazugehörte und wer nicht. Die Ausgrenzung gehörte zu den Funktionsmechanismen des NS-Regimes. Jeder, der dazu gehörte, fand seinen Platz in der Volksgemeinschaft, es gab Millionen von ehrenamtlichen Amtsträgern, vom Blockwart bis zum NS-Beauftragten in irgendwelchen Fußballvereinen. Man war wieder wer, trug sogar Uniform. Und man bediente sich, wie gesagt, am Besitz der Ausgegrenzten und war der Überzeugung, dass sei alles rechtens.

Und dann gab es nach Kriegsende plötzlich die Stunde null?
Die gab es nicht. Es gab keinen Neubeginn. Nach meiner Auffassung ging es weiter wie zuvor. Bis in die 1960er-Jahre, als der Generationenwechsel einsetzte, als es zum Aufstand der Kinder gegen die NS-Vergangenheit der Eltern kam. Die Proteste der Studentenbewegung waren ein Symbol dafür.

Das betraf den Westen. Wie war es im Osten?
Dort war die Aufarbeitung natürlich von Anfang viel stärker ideologisiert. Die Nazis waren der Klassenfeind, der Gegner. Das war relativ einfach gestrickt, da meinte man, nichts aufarbeiten zu müssen. Interessant ist aber, wie viele ehemalige Nazis auch in der Sowjetischen Besatzungszone wieder in Funktionen gelangten. Obwohl es immer hieß, dass die Alt-Nazis alle im Westen seien. Das stimmte so nicht, wie wir heute wissen.

Sie stammen aus einer bedeutenden deutsch-jüdischen Familie. Wie haben Sie das Weiterbestehen der alten Strukturen selbst erlebt?
Ich bin in Schweden geboren und kam als Siebenjähriger in das Nachkriegsdeutschland. Das war anfänglich nicht ganz einfach. Als Zehnjähriger kam ich in ein Internat auf dem Obersalzberg in Berchtesgaden, wo ich das Zimmer mit den Söhnen von Nazi-Größen teilte, wie dem von Rudolf Hess und Theodor Oberländer. In dem Alter spielte das natürlich keine Rolle. Das waren Schulkameraden wie andere auch. Als wir uns allerdings 30 Jahre später anlässlich eine Schultreffens wiederbegegneten, stand zwischen uns eine Wand, eine gläserne Wand. Wir hatten uns nichts mehr zu sagen. Damals bemerkte ich, wie eng vernetzt diese Nazi-Kinder untereinander waren. Ausnahmen gab es zwar, wie beispielsweise Niklas Frank, der Sohn eines Generalgouverneurs im besetzten Polen, der versucht hat, sich von der Nazi-Last zu befreien. Ob ihm das gelungen ist – ich habe so meine Zweifel.

Fiel es ihnen nicht schwer, nach dem Krieg nach Deutschland zurückzukehren?
Ich war, wie gesagt, ein kleiner Junge, sieben Jahre alt, als ich 1949 aus dem schwedischen Exil meiner Eltern in das Nachkriegsdeutschland verpflanzt wurde. Ich kam aus der heilen Welt in Schweden in ein Land, das vom Krieg gezeichnet war. Als ich, abgeholt in Schweden von einem Studenten meines Vaters, in Flensburg über die Grenze fuhr, saß ich, so erinnere ich mich, in einem Zugabteil, in dem Menschen sich aufhielten, die graue Gesichter hatten und nicht miteinander sprachen. Das hat mich damals ungemein verstört.

Wieso bleibt man dann?
Ich habe mich später oft gefragt, ob es sinnvoll war, dass mein Vater nach Deutschland zurückgekommen ist. Er hat es getan, weil er davon überzeugt war, es sei seine Pflicht, ein anderes, ein neues Deutschland mit aufzubauen. Ich bin also im Nachkriegsdeutschland aufgewachsen – trotz aller Probleme, die sich jüdischen Remigranten stellten.

Als was sehen Sie sich heute, als deutscher Jude?
Nein, ich begreife mich als deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens. Deutscher Staatsbürger, so wie ich das definiere, bedeutet das Bekenntnis zur Aufklärung, zur Republik und zur Demokratie. Würde ich mich als Deutscher definieren, hätte ich einen Sack von Problemen am Hals, denn dann müsste ich mir die Frage stellen, ob ich mitverantwortlich für all die Verbrechen bin, die im deutschen Namen im 20. Jahrhundert begangen worden sind. Ich definiere mich heute zwar als Bürger der Bundesrepublik Deutschland, aber mit und in dem Wissen, dass diese Gesellschaft immer gefährdet ist. Jeden Tag gilt es, um die Demokratie zu kämpfen. Die Verhältnisse können sich, wie wir wissen, über Nacht ändern.

Können Sie heute ohne Unwohlsein im Land der Täter leben?
Manchmal ja, manchmal nein.

Was meinen Sie?
Es gibt nach wie vor Anfeindungen, Briefe und Schmähschriften. Erst kürzlich bekam ich einen offenen Brief von jemandem, der sich mit Namen und Adresse als ein bekennender Rechtsradikaler outete. Das, was er mir mitzuteilen hatte, lässt sich in etwa auf die Formel bringen, die Juden seien für alles Böse auf der Welt verantwortlich. Was der Mann von mir wollte, weiß ich nicht. Vermutlich hoffte er, dass ich ihm zustimmend antworte. Nun ja, das ist die Wirklichkeit des Jahres 2015.

Die Erforschung des europäischen Judentums, der Schoah, des Nationalsozialismus ist für Sie zu einer Lebensaufgabe geworden. Auch aufgrund Ihrer Biografie?
Ja, ich habe eigentlich immer über mich und meine Erfahrungen und Probleme geschrieben. Mir ging es darum, zu begreifen, wie es dazu kam, dass Juden, Sinti und Roma, Homosexuelle und andere verfolgt und ermordet wurden. Ich weiß natürlich, dass ein letzter Rest Unerklärbarkeit bleibt. Man ist deshalb gut beraten, wenn man sich nichts vormacht und sich das Motto zu eigen macht: Es ist alles zu jeder Zeit und an jedem Ort möglich.

Sie ziehen sich nun aus Altersgründen von der Leitung des Potsdamer Moses Mendelssohn Zentrums (MMZ) zurück. Ein Endpunkt in dieser Beschäftigung?
Nein, das geht weiter. Die Beschäftigung mit der deutsch-jüdischen Geschichte sehe ich als eine mir aufgegebene Verpflichtung an. Die Leitung des MMZ gehörte dazu. Wenn ich jetzt ausgeschieden bin, heißt das nicht, dass ich mich nicht weiter mit den Problemen der deutsch-jüdischen Geschichte beschäftigen werde. Es gibt eine Reihe von Projekten, die mich beschäftigen und an denen ich künftig weiter arbeiten will.

Das Gespräch führte Jan Kixmüller

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