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"Vor Sonnenaufgang" von Ewald Palmetshofer nach Gerhart Hauptmann in der Potsdamer Regie von Marlene Anna Schäfer.
© Thomas M. Jauk

Aktuelle Klassikeradaption in der Reithalle: Wir driften

Kühle Sonne, elegischer Rhythmus: Das Stück „Vor Sonnenaufgang“ nach Gerhart Hauptmann schaut einer gespaltenen Gesellschaft ins Herz. Am Freitag war Premiere.

Potsdam - Es wird wieder Gerhart Hauptmann gespielt auf den Theaterbühnen. Am Freitagabend hatte drüben in Berlin am Deutschen Theater „Einsame Menschen“ Premiere, parallel dazu in der Potsdamer Reithalle „Vor Sonnenaufgang“. Während in Berlin offenbar viel Nacktheit geboten und Sinnlichkeit behauptet wurde, verließ man sich dort textlich auf Hauptmanns Vorlage. In der Potsdamer Regie von Marlene Anna Schäfer liegen die Dinge andersrum: Hier bedient man sich einer Neufassung des Österreichers Ewald Palmetshofer, und lässt die Sinnlichkeit weitestgehend außen vor.

Vokabular im Heute, zwei Zentimeter über der Realität

Mit der Entscheidung für die neue Textfassung hat das Hans Otto Theater viel richtig gemacht. Palmetshofer, Jahrgang 1978, hat Hauptmanns Klassiker von 1889 in eine aktuelle Kunstsprache gegossen, die alles andere als heutig ist: Das Vokabular ist im Heute verwurzelt, aber die Dialoge schweben immer ein paar Zentimeter über der Realität, verfremdet durch Pausen, Auslassungen, grammatikalische Verdrehungen. Und Ewald Palmetshofer macht Hauptmann das Geschenk, dessen schwächelnde oder schlichtweg unsichtbare Frauenfiguren von der Symbolebene in die Textebene zurückzuholen. Und wie! Dazu unten mehr.

Die Grundkonstellation ist die gleiche wie bei Hauptmann. Ein erfolgreicher Unternehmer und werdender Vater, hier heißt er Thomas Hoffmann (Paul Wilms), bekommt Besuch von seinem Studienfreund Alfred Loth (Jan Hallmann). Über zehn Jahre haben sie sich nicht gesehen, die ehemalige Nähe ist perdu. Was die scheinbar zufällige Wiederbegegnung zweier alter Bekannter ist, erweist sich bald als ein ideologisch aufgeladener Ringkampf. 

Linker Journalist, rechter Populist

Loth arbeitet für eine linke Wochenzeitung, Hoffmann kandidiert für eine rechtspopulistische Partei, wettert gegen „die da oben“. Loth will den Menschen ändern, Hoffmann glaubt nicht, dass das geht. Und zieht sich auf die Position des Geschichtenerzählers zurück: „das Leben ist so undeutlich/ da müssen unsere Geschichten nachhelfen/ ein bisschen nur.“

Der Opportunist Hoffmann wirft dem Linken Loth dessen moralische Überlegenheit vor: Willkommen im „Woke“-Diskurs 2021. Aber auch sonst ist dieses Stück, geschrieben schon 2017, thematisch mittendrin in den Fragen, die nach fast zwei Jahren Pandemie die Menschen umtreiben. „Wir driften“, sagt Loth einmal. „Wie lange, glaubst du, driften wir noch auseinander, bis wir uns nicht mehr hören können, wenn wir sprechen“. Politisch andersdenkende grüßen sich nicht mehr, Familienmitglieder sind sich nicht mehr nah, zwischen allen wächst die Stille: Das bedrückt Loth.

Psychologische Präzisionsarbeit

Dass Hoffmann demgegenüber nicht denunziert wird, sondern als ebenbürtige Figur bestehen kann, ist die große Stärke des Stücks: Hier haben, wie in allen guten Texten, alle recht. Die ruhige, pausendurchsetzte, fast elegische Regie von Marlene Anna Schäfer ist nicht unproblematisch, aber der psychologischen Präzision hilft sie. 

Paul Wilms als Hoffmann ist Zyniker, aber auch Sympath, gut situiert, aber nicht saturiert. Jan Hallmanns Loth ist moralisch im Vorteil, aber nicht moralisierend, ein Mann, dem man glaubt, dass er Antworten sucht. Glaubwürdig sind hier auch Hoffmanns Schwiegervater Egon Krause (Jörg Dathe) und dessen grollende Wut über den Perfektionismus seiner Frau Annie (Bettina Riebesel) – die ihn wiederum mit Nicht-Achtung straft. Was neuen Groll erzeugt.

Die grollende Frau, ein Ereignis

Womit wir bei den Frauenfiguren wären: Denn auch die kommen hier zu ihrem grollenden Recht. Hoffmanns schwangere Frau Martha kommt bei Hauptmann nicht vor, Ulrike Beerbaum macht sie in Potsdam zu einer Hauptfigur. Die Schwangere muss bei Hauptmann als stummes Symbol für mögliches Potenzial und dräuendes Unglück herhalten – hier reflektiert sie ihre Rolle selbst: „und mit dem Kind bring ich natürlich endlich dann mich selbst/ zur Welt/ so wie ich hätte sein solln“. Beerbaums Martha als spitzlippige, zynische, zarte, komische, aggressive Frau, die mit ihrer Beinahe-Rolle als Mutter hadert, ist ein Ereignis.

Marthas Schwester Helene (Alina Wolff), zur kommenden Niederkunft bei ihrer Schwester zu Besuch, muss bei Hauptmann viel weinen und dann sterben. Hier lebt sie. Ist über lange Strecken Ruhepol zwischen impulsiver Schwester, rechthaberischem Hoffmann, angespannter Mutter. Zu dem Besucher Loth fühlt sie sich hingezogen wie er zu ihr. Das ist offensichtlich von der ersten Minute an, wirklich nachzuempfinden ist das nicht. Warum?

Eine Sonne, die nicht wärmt

Vielleicht weil der allzu elegische Rhythmus dieser Inszenierung sich mit der plötzlichen Beschleunigung so einer aufflammenden Liebe schwertut. Vielleicht auch, weil die bewusst kosmische Dimension der Inszenierung von vorneherein schon entschieden hat, dass diese Welt eine kalte ist: Anfangs stehen alle da und starren wie Mondsüchtige ins Publikum, über ihnen ein bedrohlich großer Ball, der in der Bühne von Juan León von der Decke hängt. Mond oder Sonne? Jedenfalls nichts, das wirkt, als könnte es irgendjemanden jemals wärmen.

Wieder am 5., 18., 19. und 20.11. in der Reithalle des Hans Otto Theaters

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