zum Hauptinhalt
Die Klangkünstlerin Christina Kubisch hat für die Jubiläumsausgabe der Intersonanzen einen "Electrical Walk" kreiert.
© Intersonanzen

Jubiläum: Potsdams Festival für Neue Musik wird 20: Wie klingen elektromagnetische Wellen?

Neue Musik gilt als schwer zugänglich. Eine Frage der Vermittlung, sagt Thomas Gerwin, der Leiter des Festivals "Intersonanzen" in Potsdam. Am Donnerstag startet die 20. Ausgabe.

Potsdam - Sollten Sie im Potsdamer Stadtgebiet demnächst Menschen mit Kopfhörern begegnen, die verstört, erschrocken oder einfach nur versunken auf das Stadtgeschehen blicken, so als sähen sie es zum ersten Mal, dann sind Sie womöglich Zeugen des Festivals-Intersonanzen geworden. Vom 20. bis 24. August wird die Plattform für Neue Musik ihre 20. Ausgabe feiern: im Kunsthaus sanstitre und in mehreren Formaten auch im Potsdamer Stadtgebiet.

Während der "Soundwalk", die klangliche Erkundung der Stadt mithilfe eines Guides (Michael Schenk), ein schon etabliertes Format ist, hat die Klangkünstlerin Christina Kubisch für die Jubiläumsausgabe einen neuen, ganz eigenen "Electrical Walk" entwickelt: Sie hat elektromagnetische Wellen hörbar gemacht. Das Publikum wird gewissermaßen eingeladen, sich von diesen Wellen treiben zu lassen, oder, um im Bild zu bleiben, auf ihnen zu surfen. Über Kopfhörer kann man den in Rhythmen, Töne und Akkorde übersetzten Wellen folgen - und so die Stadt Festivalleiter Thomas Gerwin zufolge völlig neu sehen lernen.

Infolge von Corona wurde das Festival verschoben und verkürzt 

Ursprünglich sollte das Festival im Mai stattfinden, eine Woche lang. Corona kam, es wurde in den August verschoben und auf vier Tage eingedämmt. Es musste viel terminlich hin- und hermanövriert werden, die Inhalte aber blieben unangetastet: ein "Gesamtkunstwerk", wie Thomas Gerwin sagt, ein fein abgestimmtes Gebilde. Die Räume im Kunsthaus sind den Abstandsregeln folgend lose bestuhlt; dafür, ein Novum, wird es live Video-Übertragungen der Konzerte nach draußen geben. 

Thomas Gerwin leitet das Festival für Neue Musik seit 2017. Mitglied in dem Verein Brandenburgische Neue Musik, der das Festival veranstaltet, ist der Komponist seit zehn Jahren. Inzwischen gibt es 70 Mitglieder, worauf Gerwin stolz ist; bei der Anzahl der Frauen hingegen (kein Dutzend) ist noch viel Luft nach oben. Als Gerwin das Festival kennen lernte, war es noch ohne festen Ort im Stadtgebiet unterwegs, mal im Nikolaisaal, mal in der Friedenskirche, mal im Alten Rathaus. Seit 2017 sind die Intersonanzen im Kunsthaus sanstitre beheimatet, schwirren von dort in die Stadt - und drängen, eine Herzensangelegenheit Gerwins, auch in Richtung einer Zuhörerschaft, die mit Neuer Musik per se nicht viel am Hut haben mag.

Komponist und Klangkünstler Thomas Gerwin leitet das Neue-Musik-Festival Intersonanzen seit 2017.
Komponist und Klangkünstler Thomas Gerwin leitet das Neue-Musik-Festival Intersonanzen seit 2017.
© Sebastian Gabsch PNN

Das Jubiläumsmotto ist symptomatisch: Neue Musik im Gespräch

"Die ältere Generation in der Neuen Musik spricht sich oft gegen Werk-Kommentare aus", sagt Gerwin. "Da heißt es dann: Man soll einfach zuhören." Gerwin aber fragt: Wenn man keinen Zugang zum Gehörten findet, was dann? Bis heute beherzigt er, was ein Lehrer ihm mal gesagt habe: "Du musst erst einen Rahmen schaffen. Dann kannst du ihn brechen." Und weil Thomas Gerwin das Wort "Vermittlung" nicht mag, setzt er seitdem auf Austausch, auf Gespräche. Die, sagt er, seien unter Künstlerkollegen genauso wichtig wie mit dem Publikum.

Wenn die Jubiläumsausgabe der Intersonanzen nun "Neue Musik im Gespräch" übertitelt ist, dann ist das durchaus symptomatisch. Gerwin möchte die Neue Musik ins Gespräch bringen; aber er möchte auch das Gespräch darüber suchen. In Form von erstmals stattfindenden täglichen Treffen mit den Künstlern zum Beispiel: Gelegenheit für das Publikum, die Künstler kennenzulernen und eigene Fragen zu stellen.

Auch der Potsdamer Komponist Gisbert Näther ist bei den Intersonanzen 2020 mit einer neuen Komposition dabei.
Auch der Potsdamer Komponist Gisbert Näther ist bei den Intersonanzen 2020 mit einer neuen Komposition dabei.
© Andreas Klaer

Im Zeichen des Austauschs und der Nachhaltigkeit

Auch die "Brückenkonzerte" stehen im Zeichen des Austauschs - und im Zeichen künstlerischer Nachhaltigkeit: Hier werden Konzerte, die woanders bereits in der gleichen Formation stattgefunden haben, noch einmal nachgespielt. So kommt es, dass das Konzert des polnischen „Hashtag Ensembles“ am 22. August mit neuen Werken von Gisbert Näther, Dariusz Przybylski, Jaroslaw Siwinski, Lothar Voigtländer, Alexandra Kaca, Jacek Domagala, Wojciech Błażejczyk und auch Thomas Gerwin keine Uraufführung ist - die war bereits in Warschau. Stattdessen, nur unwesentlich weniger aufregend: lauter deutsche Erstaufführungen. 

Den Austausch sucht Thomas Gerwin nicht nur mit dem Publikum und anderen Ländern - in diesem Jahr heißen die Gastländer Polen und Bulgarien -, sondern auch mit Schülern. Seit einiger Zeit gibt es eine Partnerschaft des Festivals mit der Städtischen Musikschule. Das ursprünglich geplante Konzert „Werkstatt Neue Musik“ musste coronabedingt auf den Herbst verschoben werden, dafür ist am Montag das Konzert „Junges Ensemble Neue Musik“ in Kooperation mit dem Verband der Musik- und Kunstschulen Brandenburg e.V. zu erleben.

Eine Ausstellung und zwei Projekte für die Zukunft

Und weil man Musik nicht nur hören, sondern auch lesen kann, wird es auch wieder eine Ausstellung bei den Intersonanzen geben. Im oberen Stockwerk des Kunsthauses sanstitre werden Partiturseiten der in den Konzerten gespielten Werke ausgestellt: Handschriften Alter Musik, aber auch die wie abstrakte Kunstwerke anmutenden Partituren von John Cage - neben künstlerischen Positionen von Martin Daske, Irina Emeliantseva, Ralf Hoyer, Christina Kubisch, Mikos Meininger, Hans-Karsten Raecke, Sabine Vogel und Sarah Jana Wilsky.

Auch der Klangkünstler Thomas Gerwin ist hier dabei, aber der Kurator Thomas Gerwin möchte das gar nicht so sehr betonen. Wichtiger seien doch die anderen, sagt er. Und wichtig ist ihm, wo die Reise in Hinblick auf die nächsten 20 Jahre hingehen soll. Zum einen sollen die Intersonanzen und deren Neue Musik in Potsdam künftig nicht nur einmal im Jahr Gast sein, sondern zusätzlich zu den Konzerten von KAPmodern in einer regelmäßig stattfindenden Reihe unter dem Titel "Resonanz Thema werden. Und: Die Intersonanzen sollen auch bundesweit eine Rolle spielen. Der Anfang ist längst gemacht. 

Die Intersonanzen 2020 finden vom 20. bis 24. August im Kunsthaus sanstitre statt. Karten müssen über info@neue-musik-brandenburg.de bestellt werden.

Lena Schneider

Zur Startseite