Katerina Poladjans „Hier sind Löwen“: Wie ein verbeulter Hut
Im Jahr 2015 erhielt die Autorin Katerina Poladjan den "Kleinen Hei" des Literaturladen Wist. Heute Abend liest sie dort aus ihrem aktuellen Roman „Hier sind Löwen“.
Potsdam - Sie kennt sich aus mit zerschlissenen Handschriften, setzt sie akribisch mit Nadel und Seidenfaden wieder zusammen. Ein auseinandergefallenes Buch neu zu binden, fällt ihr leichter, als dem eigenen Leben Halt zu geben. Helen, die Restauratorin, schaut auf die Reste einer zersprengten Familiengeschichte. Die ist nach dem Genozid an die Armenier 1915 eine Geschichte des Schmerzes und Verdrängens.
Die kraftvoll zupackende Erzählerin Katerina Poladjan, die 2015 den „Kleinen Hei“ des Literaturladens Wist erhielt und am Montag, 17. Juni um 19 Uhr ihren neuen Roman „Hier sind Löwen“ dort zur Premiere bringt, entführt in einen menschlichen Steinbruch. Der Leser wird ohne Anlauf hineingeworfen in das Schicksal teils schroffer Figuren, die an dem Unbewältigten nagen. Und zugleich durchzieht eine tiefe Poesie und Sehnsucht die weit auseinanderdriftenden Handlungsstränge.
Expertin abendländischer Handschriften
Der Leser begibt sich mit Helen auf eine kurvenreiche Reise an die Schwarzmeerküste, an den Ararat. Der zumeist nebelverhangene Berg gibt nur selten seine Schönheit preis und thront wie ein Menetekel zwischen der Türkei und Armenien. Helen möchte ihn von beiden Seiten sehen. Überhaupt geht sie den Sachen auf den Grund: zunehmend auch ihren eigenen.
Sie, die in Deutschland ihren Nachnamen Mazavian getragen hat wie ein unpassendes Kleidungsstück, wie einen zerbeulten Hut, lebt nun für einige Monate mit Menschen zusammen, die ähnliche Namen tragen: Die Expertin abendländischer Handschriften vertieft sich in die armenischen. Sie restauriert in Jerewan eine Familienbibel und findet Spuren, die bis nach Russland führen: dort, wo auch ihre Mutter als Kind lebte.
Eine tiefgehende Suche
Helen macht sich auf die Suche nach der Familie von Sara, ihrer unnahbaren Mutter, der Künstlerin, die ihr ein altes Foto mit auf die Reise gab. Doch als Helen die ersten losen Fäden der Verganegnheit in den Händen hält, will die Mutter nichts mehr davon wissen. Sie klebt lieber weiter Fotos von toten armenischen Kindern in ihre Bilder. Als ihre Tochter klein war, zerfetzte sie auch deren Spielsachen: den Bären, die Puppen, das Schwein, selbst vor Helens Kinderzeichnungen machte sie nicht Halt, um sie mit Farbe zu beschmieren.
Sara versinkt in ihre Kunst. Helen geht andere Wege, stürzt sich in die Beziehung zu Levon, den Jazzer und Soldaten – und kommt sich selbst immer näher. „Hier sind Löwen“ ist ein aufwühlendes, ein märchenhaftes, ein temporeiches Buch. Es knistert vor Spannung und lässt auch lose Fäden zu.
— Katerina Poladjan: Hier sind Löwen. S. Fischer Verlag, 287 Seiten, 22 Euro.