Der Prager Frühling und der Westen: Wendepunkt der Ostpolitik
Ende der Juniorpartnerschaft: Birgit Hofmann analysiert in ihrem Buch das Schweigen des Westens zu Prag 1968. Eine Rezension
Für Herbert Marcuse war die Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 das „tragischste Ereignis seit dem Zweiten Weltkrieg“, dem Historiker Fritz Stern „kamen beim sowjetischen Einmarsch die Tränen“, Jean-Paul Sartre sprach von einer „Aggression, die im juristischen Sprachgebrauch des Völkerrechts als Kriegsverbrechen bezeichnet wird“. Doch während die westlichen Intellektuellen ihrer Empörung freien Lauf ließen und selbst Eurokommunisten von Moskau abrückten, fanden weder ihre Regierungen noch die Vereinten Nationen zu einer gemeinsamen starken Reaktion.
Bonn wurde zum Protagonisten der Entspannungspolitik
Grund dafür waren nicht nur die Sorge vor einer kriegerischen Eskalation des Konflikts, sondern auch Meinungsverschiedenheiten zwischen den westlichen Hauptstädten über die Zukunft der Entspannungspolitik. So konnten die Sowjets die Situation zur Proklamation der „Breschnew-Doktrin“ nutzen, mit der sich Moskau und der Warschauer Pakt militärisches Eingreifen in vergleichbaren Fällen vorbehielten und zur „inneren Angelegenheit“ des sozialistischen Lagers erklärten. Das war einerseits das Ende der deutsch-französischen Ostpolitik, durch zwischenstaatliche Kontakte mit den osteuropäischen Nationalstaaten eine allmähliche Blockauflösung zu befördern, andererseits der Beginn einer neuen deutschen Ostpolitik, die den Schlüssel der Entspannung in der Moskauer Zentrale suchte und fand. So trat schließlich ein, was Paris befürchtete: Bonn wurde vom Juniorpartner zum Protagonisten der Entspannungspolitik.
Wie es dazu kam, erhellt Birgit Hofmann in ihrer Dissertation über die politisch-diplomatischen Hintergründe für die Zurückhaltung des Westens während des Prager Frühlings, der sowjetischen Intervention und der nachfolgenden „Normalisierung“. Sie beansprucht dafür den Rang einer „Pionierstudie“. Die äußeren Tatsachen und der Ablauf der Krise von 1968 sind umfassend erforscht und dokumentiert, aber noch kaum „die Periode im Anschluss an den Prager Frühling“ und die Rolle des Westens. Im Vordergrund steht dabei das deutsch-französische Ringen um eine aus ihrer jeweiligen Interessenlage erfolgreiche Ostpolitik, die nur im allgemeinen Ziel einer „détente“ (Charles de Gaulle) mit der Sowjetunion und ihren Satelliten übereinstimmte. Hofmann legt dar, wie de Gaulles Vision einer „desatellisation“ des Sowjetreichs durch nationale Emanzipation der osteuropäischen Staaten an Prag und der Breschnew-Doktrin scheiterte und welche Lehren der – bis dahin – deutsche „Juniorpartner“ der gemeinsamen Politik daraus zog.
Deutschlands Wunsch nach Wiedervereinigung sei das eine, aber „Revanche eine andere Sache“
Während de Gaulle und sein Premier Michel Debré das Prager Exempel nur als „malheur“ und „Verkehrsunfall“ der „détente“ betrachteten und ihren Weg unbeirrt weitergehen wollten, zogen Willy Brandt und sein Berater Egon Bahr die – schmerzhafte – Konsequenz einer Anerkennung der Moskauer Realitäten, was die schrittweise Anerkennung der DDR einschloss. Der Entschluss dazu fiel umso leichter, als Frankreich selbst die zaghaften Kontakte der Bundesrepublik mit den Prager Reformkommunisten misstrauisch verfolgte und für die sowjetische Intervention mitverantwortlich machen wollte. Zwar hatte es solche Kontakte, auch auf Wunsch der Prager Regierung, vor allem auf wirtschaftlicher Ebene gegeben, aber Kanzler Kurt Georg Kiesinger hatte ausdrücklich erklärt, „alles zu vermeiden, was Dubcek Schwierigkeiten machen kann“. So wurden Manövertruppen der Bundeswehr von der tschechischen Grenze abgezogen, um dem Vorwurf einer militärischen Provokation zu begegnen, und Abgeordnete des Bundestags gebeten, auf demonstrative Besuche in Prag zu verzichten.
Das minderte weder das Misstrauen Frankreichs, dessen Botschafter in Bonn die Bundesrepublik einer „Einmischung“ in Prag verdächtigte, noch die sowjetische Propaganda, die eigene Intervention mit einer angeblichen konterrevolutionären Verschwörung mit „dem Sozialismus feindlichen äußeren Kräften“ zu begründen. Gemeint war Bonn. Als de Gaulle im Gespräch mit Kiesinger seinerseits andeutete, Deutschlands Wunsch nach Wiedervereinigung sei das eine, aber „Revanche eine andere Sache“, revanchierte sich Kiesinger: De Gaulle selbst habe in Polen „an die nationale Würde der Polen appelliert. Er selbst sei niemals so weit gegangen, auch das sei einer der Unterschiede zwischen dem, was ein französischer und ein deutscher Regierungschef tun könnten. Mit anderen Worten, die Bundesrepublik sei sogar noch vorsichtiger als Frankreich gewesen, und dies ganz besonders in der tschechischen Krise.“
Die Wahrheit lag, so will Birgit Hofmann auf zahlreiche neue Quellen gestützt wissen, in der Mitte: Bonn habe – etwa durch einen Besuch des Bundesbankpräsidenten Karl Blessing und informelle Kontakte mit der Prager Regierung, die sie vertraulich über die Haltung der DDR unterrichtete – zu einer „ambivalenten Politik zwischen Einmischung und Nichteinmischung beigetragen“. Willy Brandt wollte darin später nichts Negatives erkennen, im Gegenteil: In einem Interview vom September 1968 warf er die Frage auf, ob nicht „die Nichteinmischung im politisch-moralischen Sinne etwas weit getrieben worden ist, ob sie nicht bei anderen als Gleichgültigkeit hat verstanden werden können. Das, glaube ich, ist etwas, worüber man weiter nachdenken kann“. Birgit Hofmanns Studie liefert dazu reiches Material.
– Birgit Hofmann: Der ,Prager Frühling’ und der Westen. Frankreich und die Bundesrepublik in der internationalen Krise um die Tchechoslowakei 1968. Wallstein Verlag, Göttingen 2015. 472 Seiten, 39,90 Euro.
Hannes Schwenger