"Der Monolith": Was Otto von Bismarck und Helmut Kohl gemeinsam haben
Von der Reichsgründung und der Wiedervereinigung: Hans-Peter Schwarz vergleicht in einem Sammelband Otto von Bismarck und Helmut Kohl. Eine Rezension
Die Kanzlerin hat den Bismarck-Vergleich bereits hinter sich – zuletzt durch „Handelsblatt“ und „Spiegel“. Nun ist Helmut Kohl an der Reihe, in einem erhellenden Band von Bismarck-Reflexionen, die Tilman Mayer, Professor für Politische Theorie, Ideen- und Zeitgeschichte an der Universität Bonn, zusammengestellt hat. Hans-Peter Schwarz stellt den „Kanzler der Einheit“ dem Reichsgründer gegenüber – zum 200. Geburtstag des „weißen Revolutionärs“. Schwarz ist dafür nicht nur gut gerüstet, als weit über den akademischen Bereich hinaus bekannt gewordener Biograf von Adenauer und Kohl. Der Historiker und Politikwissenschaftler weiß um das Problem des Vergleichs. Daher stellt er direkt zu Beginn klar: „Auf den ersten und auf den zweiten Blick sind die Umbruchepochen 1864–1871 und 1985– 1991 völlig unvergleichbar.“
Und dennoch: Schwarz betont zu Recht historische Entwicklungen, die in beiden Zeitaltern abliefen. So gelang es sowohl in der Welt des späten 20. Jahrhunderts wie ab den mittleren Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, in Deutschland einen deutschen Nationalstaat zu errichten oder nach langer Teilung wiederherzustellen – und dies trotz stärkster Widerstände im Innern und in einem internationalen Umfeld, das nicht erwarten ließ, der Versuch könne gelingen.
40 Jahre lang erprobte politische Kultur
Doch gerade weil es beide Male gelang, vergleicht Schwarz ebenfalls, was daraus für Deutschland und Europa folgte. Sowohl Bismarck wie Kohl sieht er bemüht, die Vereinigung Deutschlands in ein erneuertes, dauerhaftes europäisches Staatensystem einmünden zu lassen. Kohl attestiert er, dabei wesentlich innovativer vorgegangen zu sein als Bismarck. Allerdings hatte Kohl dafür auch eine bessere Ausgangsposition. Schwarz erinnert daran, dass der Kanzler der Bundesrepublik auf einer rund 40 Jahre lang erprobten politischen Kultur der Integration in Westeuropa, auch im atlantischen Bereich, aufbauen konnte. Bismarck hingegen habe Krieg oder zumindest die Drohung mit ihm nie ganz ausgeschlossen. Doch glaubt auch Schwarz, dass Bismarck gleichfalls ein beruhigtes europäisches Staatensystem erstrebt habe.
Ob Griechenland oder Ukraine: Selten war es in den vergangenen Jahren so en vogue wie heute, Deutschlands gegenwärtige Rolle in Europa mit historischen Vorläufern zu vergleichen – oft überaus bemüht und konstruiert. Umso wertvoller ist die unaufgeregte Art, mit der Schwarz einen Blick auf den weiteren Verlauf der europäischen Geschichte nach Bismarck und Kohl wirft. Dabei spart er zugleich nicht an Kritik an seiner eigenen Zunft: Lange Zeit hätte die Öffentlichkeit, an ihrer Spitze die Historiker, Bismarcks kompliziertes Bündnissystem bewundert, das er seit 1871 geschaffen habe, um das Deutsche Reich vor gegnerischen Koalitionen zu schützen: „Verhängnisvolle Fehler, so die einstmals herrschende Meinung, seien erst nach Bismarcks Abgang gemacht worden.“
Schwarz beschreibt, wie dann in den 60er Jahren die bis dahin alles in allem günstige Einschätzung von Bismarcks Bündnispolitik von einer sehr skeptischen Beurteilung abgelöst wurde. Nun sei besonders bei Historikern in der Bundesrepublik die Auffassung vorherrschend geworden, die Errichtung eines halb hegemonialen Deutschen Reiches sei doch kurzsichtig gewesen und habe die langfristige Katastrophe wenn nicht provoziert, so doch vorbereitet. Und nicht zuletzt: Das Bismarck-Reich, so habe es nun geheißen, sei „Europa-unverträglich“ gewesen.
"Defätistische" Deutschlandpolitik
Hier schlägt Schwarz den Bogen zu Kohl und zur Wiedervereinigung. Zutreffende wie unzutreffende Geschichtsbilder blieben bereits damals nicht ohne Wirkung: Die Bonner Politik, die bei nüchterner Betrachtung ohnehin nicht mehr an die Möglichkeit einer Wiederherstellung des geteilten Nationalstaats habe glauben können, habe die in der Historikerzunft eingetretene skeptische Bewertung des Bismarck-Reichs gern als stützendes Argument ihrer „defätistischen“ Deutschlandpolitik aufgegriffen.
Schwarz sieht bis weit in die 60er Jahre hinein die von allen westdeutschen Parteien mehr oder weniger vorbehaltlos getragene Wiedervereinigungspolitik aus zwei Quellen gespeist: aus der demokratischen Überzeugung, dass die nach dem Nationalsozialismus nunmehr bereits zweite Diktatur in Deutschland skandalös sei und beseitigt werden müsse, sowie aus dem Glauben, dass der deutsche Nationalstaat ein Wert an sich sei, dessen Wiederherstellung erstrebenswert und auch legitim sei.
Nun aber – und hier dürfte sich am ehesten die Geschichte Bismarcks und Kohls treffen – ließ die Kritik am Bismarck-Reich tiefe Schatten des Zweifels auf den Nationalstaat fallen. Nach dieser treffenden Beobachtung von Schwarz blieb nun noch die Freiheitsforderung, die, so hätten viel zu viele in den 70er und 80er Jahren geglaubt, vielleicht auch im Nebeneinander zweier deutscher Staaten realisiert werden könne: einerseits der Bundesrepublik, andererseits einer liberalisierten, aber weiterhin sozialistischen und von der Sowjetunion beherrschten DDR. Was dann aber stattdessen folgte, prägt bis heute die deutsche und europäische Politik: Kohls Konzept, die Wiedervereinigung und die Schaffung eines integrierten Europa als zwei Seiten derselben Medaille zu verstehen – für Schwarz die Antwort auf Phobien, die sich beim Blick auf die Reichsgründung Bismarcks ergaben.
– Der Monolith: Reflexionen am Beginn des 21. Jahrhunderts. Herausgegeben von Tilman Mayer. Osburg Verlag, Hamburg 2015. 365 Seiten, 22 Euro.