Max Weber Gesamtausgabe: Untergründiges Denken
„Ich empfinde meinen Rücktritt nun einmal nicht tragisch“: Max Weber im Bild der Gesamtausgabe. Eine Rezension
„Die weitaus großartigsten Eindrücke von New York“, schrieb Max Weber am 4. September 1904 nach Deutschland, „sind einerseits der Blick von der Mitte der Brooklyn Bridge, andererseits der große Greenwood Cemetery in Brooklyn“. Besonders gefällt Weber „der großartige Blick auf die Zwingburgen des Capitals auf der Südspitze der Insel“: „lauter Türme wie auf den alten Bildern von Bologna oder Florenz“. Dass Weber, der in den Jahren zuvor ausgedehnte Italienurlaube unternommen hatte, um seine gegen 1897 ausgebrochene schwere Depression zu besänftigen, die für den Europäer ungewohnte Ansicht der Wolkenkratzer von Manhattan en passant mit den mittelalterlichen Wehrtürmen italienischer Stadtrepubliken vergleicht, ist bemerkenswert. Es zeigt die wache Aufnahmebereitschaft des nach langer Bedrückung zu neuen Kräften gekommenen Wissenschaftlers, der noch im selben Jahr bedeutende Aufsätze wie „Die ,Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis“ veröffentlichte.
Entlassung aus dem Staatsdienst
Im Spätsommer reisten Weber und seine Frau Marianne nach Amerika, vorderhand um an einem wissenschaftlichen Kongress anlässlich der Weltausstellung zu Saint Louis teilzunehmen, dabei aber Land und Leute auf einer dreimonatigen Rundfahrt kennenzulernen. Lange hielt sich die Ansicht, Webers noch im selben Jahr teilveröffentlichter Aufsatz „Die protestantische Ethik und der ,Geist‘ des Kapitalismus“ beruhe auf Erlebnissen dieser Reise. Das hat die Weber-Forschung längst widerlegt. Gerade auch die Briefe von unterwegs, die nun innerhalb der Max-Weber-Gesamtausgabe (MWG) für die Jahre 1903–1905 vorliegen und wie gewohnt mustergültig ediert und erläutert sind, sprechen dagegen. So sehr sich beide Webers für alle Einzelheiten interessieren und zumal, durch die weitläufige Verwandtschaft Mariannes, mit dem Sektenwesen der USA in Kontakt kommen, so wenig finden sich Belege dafür, dass hier eine auf die epochale Protestantismus-These hinführende Feldforschung oder gar Reflexion betrieben worden wäre. Stattdessen berichtet Weber von seinem neu gewonnenen Wohlbefinden, wie schon im Jahr zuvor aus belgischen und holländischen Badeorten, wo er, der doch materiell abgesichert war, sich en détail über die Ausgaben für Kost und Logis auslässt – im selben Jahr, da er beim badischen Kultusministerium um die „Entlassung aus dem Staatsdienst“ einkommen musste mit der Begründung, sein Gesundheitszustand schließe „für absehbare Zeit die Erfüllung der Lehrpflichten eines Ordinarius aus“.
Dieser, mehr von Marianne als ihm selbst durchlittene Tiefpunkt – „Ich empfinde meinen Rücktritt nun einmal nicht tragisch“, schrieb er seinem Bruder Alfred – mündet überraschend in neue Aktivitäten. Nur Wochen später bespricht er mit seinem künftigen Verleger Paul Siebeck die Übernahme einer eingeführten Zeitschrift, die er ab April 1904 mit Edgar Jaffé und Werner Sombart als „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ herausgeben und zum Zentralorgan der erst gegen 1913 so bezeichneten Soziologie entwickeln sollte. Die im vorliegenden Band versammelten Briefe geben einen verwirrenden Eindruck: Privates und Berufliches steht unverbunden nebeneinander – und Berufliches erschöpft sich meist im Kleinklein universitärer Fehden –, und gerade wenn man, wie für die zur damaligen Zeit noch höchst seltene Amerikareise, Hinweise auf das Werden der Wissenschaft erwartet, zeigt sich eher ein wohlversorgter Baedeker-Tourist.
Die MWG nähert sich damit der Vollendung
Webers Denken entsteht, so legen es die Briefe nahe, untergründig – um dann, wie im Protestantismus-Aufsatz, ungeheure Wirkung zu entfalten. Zur vollgültigen Systematisierung seiner verstreuten Forschungen und Reflexionen ist Weber zunächst wegen tausenderlei aktueller Arbeiten, dann des Ersten Weltkriegs und schließlich des Grippetodes im Juni 1920 nie gekommen. Zu welchen Verwirrungen seine ungeordnete Hinterlassenschaft geführt hat, zeigt der Umgang mit seinem Hauptwerk „Wirtschaft und Gesellschaft“. Nach der mühsamen Aufdröselung der Entstehungs- und Editionsgeschichte liegt nun auch die von Weber großenteils noch selbst korrigierte Druckfassung in Band I/23 der Werkausgabe gesondert vor, unter eben diesem Titel, den der Verleger Paul Siebeck 1920 ankündigte: „Wirtschaft und Gesellschaft. Soziologie“, und zwar als Teil des Sammelwerks „Grundriß der Sozialökonomik“, mit dessen säumigen Mitverfassern sich Weber als Herausgeber des Gesamtwerks jahrelang abplackte. Der nun von der von Marianne Weber gleich 1920 vorgenommenen, falschen Zuordnung befreite Text zeigt das auf einem ungeheuren Fundus an historischen Kenntnissen aufbauende Abstraktionsvermögen Webers in Vollendung – aber eben auch, wie der Verfasser sogleich einräumt, in „freilich vielleicht pedantisch wirkender Ausdrucksweise“.
Mit diesem Band 23 ist der chronologische Abschluss der MWG erreicht. Was noch fehlt, sind wenige zeitlich vorangehende Schriften und Reden sowie Briefbände und Vorlesungsmitschriften. Ein mehr als dreißig Jahre dauerndes Mammutprojekt kommt allmählich zum Abschluss. Deutlicher als je zuvor – auch die umfangreichen Weber-Biografien der jüngsten Zeit haben das herausgestellt – wird der in der Person liegende Bruch zwischen Früh- und Hauptwerk deutlich, den Webers nie wirklich geheilte, von ihm aber zu enormer Produktivität und zur Höhe seiner Einsichten umgelenkte psychische Erkrankung bedeutet. Wohl kein zweites Werk der Sozialwissenschaften hat einer gültigen Edition wie der MWG so viel Mühe bereitet wie dasjenige Webers, doch wie kein zweites war und ist es dieser Mühe wert.
- Max Weber Gesamtausgabe. Tübingen, J.C.B. Mohr. Bd. II/4: Briefe 1903–1905. 751 Seiten, 294 Euro. Bd. I/23: Wirtschaft und Gesellschaft. Soziologie. 847 Seiten, 334 Euro.
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