Neue Mao-Biografie: Stalins Schüler
Der große Vorsitzende: Alexander Pantsov und Steven Levine ziehen in ihrer Biografie Maos Lebensbilanz. Eine Buchbesprechung
War Mao – was sein Namenszusatz Zedong wörtlich bedeutet – ein „Wohltäter des Ostens“? Darüber wird man nach der neuen, umfangreichsten Biografie von Alexander Pantsov und Steven Levine geteilter Meinung bleiben. Nicht nur zwischen Bewunderern und Gegnern, sondern auch in der Binnenabwägung seiner um Objektivität bemühten Biografen. Ihre Buch, obwohl vom Verlag als die Biografie bezeichnet, ist nicht die erste – das war Edgar Snows Mao-Hagiografie von 1936 – und wird nicht die letzte bleiben; aber sie füllt die Waagschalen von Pro und Contra mit neuen und gewichtigen Belegen. Die Autoren selbst rühmen sich ihrer „unvoreingenommenen Einstellung“, wonach „Mao weder ein Heiliger noch ein Teufel war, sondern eine vielschichtiger Mann“ und „einer der größten Utopisten des 20. Jahrhunderts, aber anders als Lenin und Stalin … nicht nur ein politischer Abenteurer, sondern ein nationaler Revolutionär“. Am Ende ihres 1000-Seiten-Werks bleiben seine Leistungen für sie „unbestreitbar, ebenso seine Irrtümer und Verbrechen“.
Hauptquellen der beiden amerikanischen Historiker sind das ehemalige Zentrale Parteiarchiv der KPdSU, heute Russisches Staatsarchiv (darin auch ein Dossier über Mao mit Unikaten seiner politischen Berichte, Privatkorrespondenz und stenografische Mitschriften seiner Begegnungen mit Stalin und Chruschtschow) sowie Dokumente aus den noch immer zugangsbeschränkten Sammlungen des ZK der KP Chinas, die chinesische Historiker kürzlich erschlossen haben. Sie enthalten eine 13-bändige Sammlung von Manuskripten Maos, eine Chronik seines Familienclans, Aufzeichnungen privater Gespräche und bisher unbekannte Textentwürfe, Kritiken, Notizen und Gedichte. Der in Moskau geborene, an der Russischen Akademie promovierte Pantsov und sein Mitautor Levine beherrschen beide Originalsprachen der Dokumente – keine Selbstverständlichkeit bei westlichen Historiografen.
Stalin war für ihn "Lehrer" und "Teufel"
Manche der Worte des Großen Vorsitzenden sind auch so haarsträubend, dass man am Wortlaut der Übersetzungen zweifeln möchte. Etwa an einem Dialog Maos mit dem italienischen Parteichef Palmiro Togliatti über die Folgen eines Atomkriegs, in dem dieser bezweifelt, dass viele Italiener dabei überleben würden. Maos zynische Antwort: „Aber wieso glauben Sie, die Italiener wären so wichtig für die Menschheit?“ Oder sein Kommentar zu den Hungersnöten während des „Großen Sprungs nach vorn“ 1959: „Es ist besser, die Hälfte der Menschen sterben zu lassen, damit die andere Hälfte genug zu essen hat.“ Die von Mao abgeschriebene Hälfte der Menschen, die damals in China verhungerte, beziffern selbst amtliche chinesische Schätzungen auf 35 Millionen, ein Historiker in Hongkong auf 55 Millionen. Doch bereits in seinen jungen Jahren als radikaler Bauernrevolutionär verfügte Mao, „die Grundherren und despotischen Vornehmen samt ihren Lakaien ohne die geringsten Bedenken zu massakrieren, die reichen Bauern mit den Mitteln des Roten Terrors zu bedrohen, damit sie es nicht wagen, der Grundherrenklasse beizustehen“. Stalin, dessen Vernichtungsfeldzug gegen „Kulaken“ seinen Beifall fand, sprach er in Telegrammen als „Genossen Oberster Lehrer“ an.
Das war nicht sein letztes Wort über Stalin, den er bei späterer Gelegenheit als „heuchlerischen ausländischen Teufel“ bezeichnete, bevor er ihn gegen Chruschtschows Entstalinisierung wieder in Schutz nahm. Er selbst war zumindest ein Jahrzehnt lang – von 1936 bis zum Kriegsende – Schützling Stalins, der ihn in den Fraktionskämpfen der chinesischen Kommunisten als deren Führer anerkannte und politisch und finanziell unterstützte. Mao seinerseits ordnete sich in dieser Zeit den Weisungen und Taktiken Stalins und der Komintern weitgehend unter, obwohl es ihm nach seinen anarchistischen und linksradikalen Anfängen und bei seiner Utopie einer permanenten Revolution schwerfiel, auf Stalins Wunsch zeitweise mit Chiang Kai-shek und dessen Guomindangpartei zu paktieren.
Zwar übernahm er vor Gründung der Volksrepublik offiziell die Parole einer „Neuen Demokratie“, sprach aber schon 1949 wieder von einer volksdemokratischen Revolution und der „demokratischen Diktatur des Volkes“. Nach Stalins Tod räumte er ein, dass damit „im Kern“ die Vernichtung der Bourgeoisie gemeint war, die als Generallinie stets sein politisches Handeln bestimmte. Später wollte er selbst im Sozialismus die Fortdauer von Klassenkämpfen erkennen und unter den eigenen Genossen und Weggefährten alle bekämpfen, „die den kapitalistischen Weg gehen“, wie der zeitweilige Staatspräsident Liu Shaoqui oder Deng Xiaoping, dessen Politik nach Maos Tod seine Befürchtung bestätigen sollte. Ihretwegen löste er die „Große Proletarische Kulturrevolution“ aus, die noch einmal Millionen das Leben kosten sollte.
"Ich war sein Hund"
Und doch unterschied ihn von Stalin sein Verzicht auf physische Säuberungen seiner Partei. Während Stalin nahezu die gesamte bolschewistische Parteielite Lenins ermordete, ließ Mao seine Widersacher nach erfolgter Selbstkritik überleben, um sie – nach ihrem „Gesichtsverlust“ – in ständiger Abhängigkeit zu halten und bei Bedarf zu reaktivieren. Die prominentesten Beispiele waren der ewige Opportunist Zhou Enlai, Liu Shaoqui, Deng Xiao Ping und der unterwürfige Lin Biao. Sein Ende bei einem Flugzeugabsturz auf der Flucht vor Verhaftung wegen Attentatsplänen seines Sohnes gegen Mao kommentierte der Große Vorsitzende lakonisch: „Das hast du nun davon, dass du geflohen bist.“ Trotzdem deprimierte ihn der Verrat seines treuesten Gefolgsmanns und designierten Nachfolgers so, dass er sich tagelang einschloss und Todesahnungen hatte.
Obwohl er schwer krank noch fünf Jahre lebte, in denen er mit Nixons Besuch eine Neuorientierung der chinesischen Außenpolitik einleitete, konnte er im Inneren die Folgen seiner missglückten Kulturrevolution nicht überwinden. Seine Frau Jiang Quing, die Einpeitscherin der Kulturrevolution, behielt so viel Einfluss auf ihn, dass sie seinen glücklosen Nachfolger Hua Guofeng bei ihm durchsetzte und die Partei noch nach seinem Tod mit ihrer „Viererbande“ terrorisierte, bis sie schließlich verhaftet und angeklagt wurde. Sie habe, wollte sie sich rechtfertigen, nur in Maos Auftrag gehandelt. „Ich war sein Hund. Wenn er ,fass!‘ sagte, habe ich zugebissen.“ Bei ihrem Selbstmord 1991 schrieb sie im Abschiedsbrief: „Mao, ich komme, dich zu sehen.“
Ob auch er sie wiedersehen wollte, darf – nicht nur wegen seiner zahllosen Geliebten und Frauen – bezweifelt werden. Er wollte, hatte er wiederholt gesagt, im Jenseits Marx sehen und ihm Rechenschaft geben. Manchmal sprach er auch von einer Begegnung mit Gott. Stalin, Lenin und Engels scheint er dort nicht erwartet zu haben.
Alexander V. Pantsov, Steven I. Levine: Mao. Die Biografie. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2014. 992 Seiten, 34 Euro.
Hannes Schwenger
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