Kultur: Große Not nach dem großen Sprung Ein Buch zu Hungersnöten
unter Stalin und Mao.
Hitlers Verbrechen zu historisieren, ist uns Deutschen – noch – nicht erlaubt. Vielleicht ist das der Grund, warum Hitlers Name im Titel von Felix Wemheuers Buch „Der Große Hunger. Hungersnöte unter Stalin und Mao“ fehlt, obwohl die deutschen Hungerblockaden gegen Kiew und Leningrad, die mörderische Ausplünderung der Ukraine und die Unterversorgung der russischen Kriegsgefangenen in deutschen Lagern ein eigenes Kapitel darin ausmachen. Mag auch Stalin eine Mitschuld an der Hungerkatastrophe von Leningrad mit 750 000 Toten treffen, bleiben auch ohne sie mehr als eine Million Hungertote in der Sowjetunion, die auf das Konto der deutschen Besatzer gehen.
Die ukrainische Hungerkatastrophe 1931–33 wollen einige ukrainische Historiker und Politiker heute als nationalen „Holodomor“ in eine historische Nähe zum Holocaust an den Juden Europas rücken. Felix Wemheuer stellt das mit guten Gründen infrage – „derzeit“ könne mangels Dokumenten, die die These eines geplanten Massenmords belegen, kein Genozid bewiesen werden –, beschönigt aber weder die horrenden Opferzahlen von 6 bis 8 Millionen noch die Schuld Stalins an den Ursachen.
Wemheuer sieht sie in der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft, die den Bauern die Lasten für die forcierte Industrialisierung auflud und mit brutaler Gewalt – Erschießung von 30 000 und Deportation von zwei Millionen Bauern – durchsetzte. Dagegen sei Lenins Antwort auf die sowjetische Hungersnot von 1921 vergleichsweise rational gewesen, wenn er ausländische Hungerhilfe, vor allem aus den USA, zuließ und mit der Neuen Ökonomischen Politik (NÖP) Marktkräfte gegen das Versagen der zentralistischen Ernährungsdiktatur mobilisierte. Zwar blieb auch Stalin 1933 nichts anderes übrig, als Reformen zuzulassen, die den Bauern wieder private Parzellen zugestanden. Trotzdem kam es auch nach Kriegsende 1946/47 zu neuen Hungersnöten mit ein bis zwei Millionen Toten, auf die Stalin keine andere Antwort wusste als neuerliche Repressionen, Säuberungen und Kampagnen gegen vermeintliche „Kulaken“.
Im zweiten Teil seiner Studie wendet sich der Sinologe Wemheuer den chinesischen Hungersnöten unter Mao Zedong zu, die in Zahlen noch katastrophaler waren als Stalins Hungerbilanz. Wemheuer zitiert die Schätzung eines chinesischen Demografen, der auf 32 Millionen Hungertote kommt. Andere Schätzungen nennen 45 Millionen Hungertote, 2,5 Millionen Erschlagene und ein bis drei Millionen Selbstmorde aus Verzweiflung. Beim Scheitern des „Großen Sprungs nach vorn“ scheint Mao die Fehler Stalins zunächst wiederholt zu haben, bevor er 1960 entschied, Getreideimporte zuzulassen und die Kollektivierung in Volkskommunen zurückzufahren. Bis dahin hatte China noch auf dem Höhepunkt der Hungersnot 1960 Getreide exportiert, unter anderem in die DDR. Wemheuer schätzt, dass das Leben von mehr als fünf Millionen Chinesen gerettet worden wäre, wenn man diese Exporte rechtzeitig gestoppt hätte. Dass das überhaupt geschah, ist nach seiner Meinung der Grund, dass die spätere Kulturrevolution wenigstens keine neue Hungerkatastrophe auslöste.
Allerdings muss sich seine Darstellung auf ungesicherte Quellen stützen, was sein Buch nicht weniger wertvoll macht, denn dem Sinologen und Mao-Biografen ist es gelungen, während seines Studienaufenthalts in China Zeitzeugen zum Sprechen zu bringen, die fehlende Zahlen und Daten durch ihre Erfahrungsberichte „von unten“ ersetzen. Sie sind manchmal grausamer als nackte Zahlen. Trotzdem schließt Wemheuer sein Buch mit dem Versuch einer Historisierung der sowjetischen und chinesischen Hungersnöte im Vergleich mit Hungerkatastrophen der Zarenzeit, des alten China und historischen Hungersnöten, die von den Kolonialmächten zu verantworten waren. Eine Entschuldigung für Stalin und Mao sei das dennoch nicht: „Dass aber zuerst Millionen Bauern sterben mussten, bevor die Kommunistischen Parteien wichtige Lehren zogen, das ist die eigentliche Tragödie.“ Hannes Schwenger
– Felix Wemheuer: Der Große Hunger. Hungersnöte unter Stalin und Mao. Rotbuch Verlag, Berlin 2012. 256 Seiten, 19,95 Euro.
Hannes Schwenger
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