Lou Hoyer im Kunstraum Potsdam: Rätsel und Blöße
Die Potsdamer Künstlerin Lou Hoyer untersucht den menschlichen Körper, ohne Scham oder Schock. Der Kunstraum Potsdam zeigt erstmals ihre Werke - und beendet damit den Lockdown.
Potsdam - Lou Hoyer zeigt alles, könnte man sagen, und doch offenbart sie nichts. In ihren Zeichnungen kringelt sich Schamhaar, öffnen sich Schamlippen, ragen Penisse in die Höhe. Und doch hat das nichts Obszönes, Peinliches, Entblößendes. Für Schock und Scham ist in diesen feinen Arbeiten aus Tusche, Pastell oder Kohle kein Platz. Schon eher für Humor, Poesie, und vor allem: Rätsel.
„Welcome aboard the apocalyptic rider“ heißt die Ausstellung im Kunstraum Potsdam, die erstmals die Werke der Potsdamer Künstlerin gebündelt versammelt. Fast alles ist in den letzten zwei Jahren entstanden, was umso erstaunlicher ist, weil es die Zeit war, in der Lou Hoyer parallel zum ersten Mal Mutter wurde. Das zweite Kind ist unterwegs.
Die Arbeiten sind in der Pandemie entstanden
In Potsdam lebt Lou Hoyer seit 2015, ihr Atelier hat sie in der Garage ihres Hauses in Babelsberg. Praktisch, sagt sie, „so kann ich jede Minute nutzen“. Manchmal auch als Flucht. „Arbeiten ist wie tauchen.“ Seitdem die Tochter da ist, arbeitet Lou Hoyer oft nachts.
Die Arbeiten für „Welcome aboard the apocalyptic rider“ sind in der Pandemie entstanden und teilweise auch von ihr beeinflusst. „Black Noise“, eine zwei mal drei Meter große Kohlezeichnung, zeigt den Blick in einen entkernten Theatersaal. Im Vordergrund eine Frauengestalt in Bewegung, sie wirkt wie tief versunken in wildes Dirigieren. Im Hintergrund: ein gähnend leeres Parkett. In einer ersten Fassung des Bildes standen noch Stühle drin, das erschien Lou Hoyer in der Pandemie dann nicht mehr passend.
Das Meer dirigieren
„Ich wäre selbst am liebsten Dirigentin geworden“, sagt Lou Hoyer. Geboren 1985 in Berlin-Steglitz, ausgebildet an der UdK, danach als Frida-Kahlo-Stipendiatin in Mexiko-Stadt. Hoyers Mittel sind andere, aber das Spiel mit Symbolik, die Themen Weiblichkeit und Verletzlichkeit des menschlichen Körpers: all das hat sie mit der mexikanischen Ikone gemeinsam.
Musik begleitet Lou Hoyer schon lange. Sie spielt Klavier, hat Gesangsunterricht genommen. Im ersten Stock ist eine Videoinstallation zu sehen, die auf den früheren Berufswunsch anspielt: „Symphonie for wind and waves“. Im Zentrum ein Video, auf dem eine Frau, Lou Hoyer, am Meer zu sehen ist, mit dem Rücken zur Betrachterin. Sie dirigiert in ausladenden Gesten in den Wind.
Reminiszenzen an das Theater
Der kleine Mensch als Bezähmer der großen Natur: eine Allmachtsfantasie. Gespenstisch, auch komisch. Und wahnhaft, denn: wer dirigiert hier wen? Auf den Wänden im Kunstraum sind neben dem Video Partituren zu sehen, deren Linien wie vom Wind verweht wirken. Zu hören ist: nichts. Oder doch. Ein Rauschen im eigenen Kopf
„Welcome aboard the apocalyptic rider“ ist voller Reminiszenzen an das Theater. Das Spiel mit Erwartung, mit Auf- und Abtritt, mit dem Moment bevor sich der Vorhang hebt und mit der Erzählung im eigenen Kopf – all das ist essenziell in Lou Hoyers Kunst.
Rechts vom Eingang hängt im Kunstraum eine überlebensgroße Zeichnung, in der eine Frau ihre Garderobe ablegt. Eine alltägliche Theatersituation. Nur dass hier der Mensch unterm Mantel nackt ist. Eine Einladung an Besucher:innen vielleicht: Nicht zum Voyeurismus, sondern sich selbst die Blöße zu geben. Sich zu öffnen, und zwar ganz.
Wo verläuft die Linie zwischen Wahn und normalem Wahnsinn?
Lou Hoyer hat selbst eine Oper geschrieben: „Der gerechte Winkel“ über die Berliner Lyrikerin Unica Zürn. Die Surrealistin schrieb ihre Gedichte in Anagrammen, als Jonglage mit den immergleichen Elementen. Fragmentarisch, rätselhaft: So wie Zürns Gedichte wirken auch Hoyers Werke. Bei Unica Zürn (1916–1970) folgten auf das Schreiben immer längere Aufenthalte in psychiatrischen Kliniken. Wo verläuft die Linie zwischen Wahn und „normalem Wahnsinn“? Das beschäftigt Lou Hoyer auch.
Formal am erstaunlichsten im Kunstraum ist das 23 Meter lange Fries „Press Play“: eine Aneinanderreihung von bislang 33 surrealen Szenen, getrennt von weißen Vorhängen. Einige Szenen setzen sich mit dem biblischen „Hohelied“ auseinander. Aber bei Lou Hoyer ist auch Sexualität nicht der Endpunkt irgendeiner Enthüllung, sondern ein Ausgangspunkt für phantastische Welten. „Ich interessiere mich einfach sehr für die Haut, dieses größte Organ des Menschen“, sagt sie. Ihre Bilder zeigen nicht nur, wie verletzlich dieser Schutzmantel ist – sondern auch wie durchlässig, zum Glück.
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Eine neue Blickrichtung
Manchmal erinnert Lou Hoyers sich gegen Dechriffierbarkeit sträubende Kunst an Salvador Dalí, oder auch an Neo Rauch. Den Gedanken lässt sie zu, sagt aber auch: „Wenn man malt, muss man alle Vergleiche draußen lassen.“ Und was sie nicht zuletzt von den Genannten unterscheidet: die eigene Perspektive.
Die Kohlezeichnung „Point of View“ (2020) zeigt einen Frauenunterleib, dessen Beine sich Richtung Meer öffnen. Kein Kopf, kein Gesicht, dafür darunter der Kommentar: „L’origine 3. Aufzug“. Gustave Courbet hatte 1866 eine Vagina als „Ursprung der Welt“ gemalt – französischer Titel: „L’Origine du monde“. Auch Lou Hoyer zeigt den Ursprung der Welt. Aus eigener Blickrichtung.
„Welcome aboard the apocalyptic rider“, Freitag, Samstag und Sonntag, 13 bis 18 Uhr, im Kunstraum Potsdam geöffnet. Erstmals auch im Kunstraum zu sehen: der Film „Kunstpause“ von Kombinat. Bis 20.6.