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Jörg Immendorffs Gemälde "Ende gut, alles gut?" (Auszug) von 1983, zu sehen in der Villa Schöningen
© Ottmar Winter PNN

Zwei Kunst-Ausstellungen als Alternative zur Einheitsfeier: Ende gut, alles gut?

30 Jahre Deutsche Einheit aus der Perspektive zeitgenössischer Kunst: In der Villa Schöningen beleuchtet eine Ausstellung "Versammlungsfreiheit" im Jahr 2020. Und der Kunstraum Potsdam tritt dem offiziell verordneten Wir-Gefühl mit einem differenzierten "Ihr" entgegen.

Potsdam - Deutschland feiert 30 Jahre Deutsche Einheit und Potsdam hat sich für die Jubiläumsfeierlichkeiten geschmückt. Überall in der Stadt stehen Schaukästen herum, in denen sich die Bundesländer wie zum Verkauf präsentieren. Aus Kuben wehen audioverstärkt Geschichtsfetzen herüber. Schwarz-rot-goldene Fahnen weisen Besuchern den Weg durch diese Einheits-Nabelschau. Nur: Ist das alles, was zum Einheitsjubiläum zu sagen ist? Wohl kaum. Zwei Ausstellungen mit zeitgenössischer Kunst halten ihre Positionen dagegen. 

Das Adler-Volk in der Sackgasse

In der Villa Schöningen scheint der Düsseldorfer Künstler Jörg Immendorff den Kommentar zur Einheitsfeierei zu liefern: "Ende gut, alles gut." Auf dem gleichnamigen Gemälde tummeln sich deutsche Adler in bunten Farben. Es hängt im ersten Stock der Ausstellung "Art. 8 GG Versammlungsfreiheit", die am 3. Oktober eröffnen wird. Aber natürlich: Nichts ist hier gut, und auch nicht zu Ende. Was auf den ersten Blick wie ein Kommentar auf die Deutsche Einheit wirken kann, wurde bereits 1983 gemalt. Am linken Bildrand ist ein Hakenkreuz zu sehen, auf einer Mauer ist in Umrissen eine Gestalt mit Hitlerbärtchen erkennbar. Zu welchem Zweck ist das Adler-Volk hier versammelt? Aus freien Stücken oder in die Enge getrieben? So oder so lässt sich sagen: Es steht in einer Sackgasse.

Die Lage der Villa Schöningen im ehemaligen Grenzstreifen ruft geradezu nach einer Auseinandersetzung mit dem Ort. Und doch soll die Ausstellung "Versammlungsfreiheit" Museumsleiterin und Kuratorin Sonia Gonzalez zufolge nicht nur ein Kommentar zu dreißig Jahren Deutscher Einheit sein. Soll auch nicht nur auf die fragile Position der Versammlungsfreiheit im Corona-Jahr 2020 hinweisen - was mit einem Exponat von Chris Reinecke aus dem Jahr 1970 etwa geschieht. "Schutz gegen Anfassen (mit eingenähter Karte)", ein Stofffetzen, lässt im Jahr 2020 an einen Mund-Nasen-Schutz denken.

Stille Kraft. Marion Finks Triptychon in der Ausstellung "Art. 8 GG Versammlungsfreiheit" in der Villa Schöningen.
Stille Kraft. Marion Finks Triptychon in der Ausstellung "Art. 8 GG Versammlungsfreiheit" in der Villa Schöningen.
© Ottmar Winter PNN

Was Friedrich Wilhelm IV. für die Versammlungsfreiheit tat

Was die Schau auch will: auf die Geschichte des Hauses verweisen, die viel länger zurückliegt. Gonzalez zeigt auf die Büste Friedrich Wilhelm IV., die im Treppenhaus über die Besucher wacht. Den Blick richtet er zum Schloss Glienicke auf der anderen, der Berliner Seite der Glienicker Brücke: vor 1989 unerreichbares Terrain. Friedrich Wilhelm war nicht nur Erbauer der Villa Schöningen, sondern auch Wegbereiter des heutigen Grundgesetzes. Nach den Aufständen von 1848 sah er sich gezwungen, in der Preußischen Verfassung auch einen Passus zur Versammlungsfreiheit unterzubringen. 

Versammlungen, sagt Gonzalez, waren vor 1848 nur sehr eingeschränkt möglich: im Rahmen von Sportveranstaltungen zum Beispiel. Darauf spielt die Fotoserie von Pola Sieverding an: künstlerisch ausgeleuchtete, fast ikonenhaft wirkende Aufnahmen von Männern beim Ringen. Übereinander gestapelte, in einander verknotete Muskelpakete. Bilder von ungeheurer Intensität - und auch Brutalität. Eine Hand hebt sich an eine Kehle, eine andere Hand ballt sich zur Faust. Ein Sportler steht bereit zum Sprung. Der Gegner ist unsichtbar, aber die Seile, auf denen er steht, tragen die Farben schwarz-rot-gold.

Sonia Gonzalez, Kuratorin und Museumsleiterin der Villa Schöningen.
Sonia Gonzalez, Kuratorin und Museumsleiterin der Villa Schöningen.
© Ottmar Winter PNN

Eine Metapher für den Eisernen Vorhang

Nur 14 Werke von zwölf Künstler und Künstlerinnen versammelt die Schau - die bislang kleinste in der 2009 eröffneten Villa Schöningen. Darunter stille Positionen wie "The Visit" von dem Künstlerkollektiv Fort: eine mehrere Meter breite Wand ist von einem samtenen Vorhang verdeckt. Nur wer genau hinschaut, wird die Füße entdecken, die unten hervorschauen und sich langsam hin und her bewegen. Etwas, jemand, wartet auf seinen Auftritt. Eine Metapher für den Eisernen Vorhang, der vor 31 Jahren heruntergerissen wurde? 

Auch das Triptychon von Marion Fink, die in Potsdam ihr Atelier hat, strahlt trotz seiner opulenten Größe Ruhe, geradezu Ödnis aus: Menschen in melancholischen Wartepositionen, jeder für sich, in Sicherheitsabstand von einander, denkt man unwillkürlich. Ein Panoramafenster, dahinter ein rotgoldener Himmel. Der Titel der Arbeit von 2017: "Es hatte ihnen noch niemand den Gefallen getan, vor ihrem Fenster niedergefahren zu werden". 

In den Stillen liegt die Kraft

Diese leiseren Arbeiten sind die stärksten in dieser Schau. Die knallige Ansammlung der Nackten von Vanessa Beecroft stellt eher aus, als dass es hinterfragt, die Dauerbeschallung der Installation "My favorite Music" von Annika Kahrs zerstreut Aufmerksamkeit vielmehr, als dass sie sie bindet. Die Demonstrationen hingegen, die der Kölner Künstler Marcel Odenbach 1989 erlebte, die Mauerspechte, die das ZDF ein Jahr später zeigte, hacken sich nachhaltig ins Gedächtnis. "Niemand ist mehr dort, wo er hin wollte" heißt seine Installation aus den Jahren 1989/90.

Kartoffeldruck. Der Kölner Tom Korn hat für die Ausstellung "Ihr. Sentimentalitäten in Deutschland" im Kunstraum fünf Arbeiten zur Ostmoderne geschaffen.
Kartoffeldruck. Der Kölner Tom Korn hat für die Ausstellung "Ihr. Sentimentalitäten in Deutschland" im Kunstraum fünf Arbeiten zur Ostmoderne geschaffen.
© Ottmar Winter PNN

Ein trotziges Ihr gegen das Wir im Potsdamer Stadtraum

Beinahe trotzig liest sich der Titel, den Mike Gessner, Kurator des Kunstraums Potsdam, seiner Anti-Einheits-Schau gegeben hat: "Ihr. Sentimentalitäten in Deutschland". "Von Wir ist da draußen überall im Stadtraum schon genug die Rede", sagt Gessner. Dagegen geht es ihm um den Blick aus der Distanz. Auf das, was Deutschland war, was es heute ist. Künstler aus Ost und West sind dabei, natürlich, wobei die Herkunft eine untergeordnete Rolle spielt, wie Gessner sagt: Der Jüngste, Nicholas Warburg, wurde erste einige Jahre nach dem Fall der Mauer geboren.

Dennoch: Natürlich spielt auch die Biografie der Künstlerinnen und Künstler in den Werken eine Rolle, in einigen sogar eine große. Von dem Berliner Fotograf Ludwig Rauch, der Anfang 1989 noch nach Westberlin übersiedelte, sind zwei Fotografien aus der Zeit um 1990 zu sehen. Es sind die einzigen Arbeiten älteren Datums. Darunter ein Foto, das wie ein Sinnbild für die damalige Zeit wirkt: Ein Trabi steht vor der Brandmauer eines hohen Altbaus, winzig klein. In riesigen weißen Buchstaben, von Rauch selbst in halsbrecherischer Aktion aufgemalt, steht auf der Wand darüber: "Der Starke zweifelt hinterher". 

Stoßseufzer. "Ach." hat die Berliner Künstlerin Andrea Pichl ihre Installation aus Zaunelementen mit Ost-Patina genannt.
Stoßseufzer. "Ach." hat die Berliner Künstlerin Andrea Pichl ihre Installation aus Zaunelementen mit Ost-Patina genannt.
© Ottmar Winter PNN

Geist des klugen Zweifelns

Im Geist des klugen Zweifelns scheint auch die Videoarbeit des Potsdamer Künstlers Jörg Schlinke entstanden: Ein Käfer liegt auf dem Rücken, streckt die Beine in die Höhe. Er liegt auf einem Spiegel. Zwei Käfer liegen also dort, Rücken an Rücken, im Versuch, zueinander zu kommen - eine Einheit zu bilden. Aber warum eigentlich?, fragt Schlinke. Könnte man nicht einfach akzeptieren, dass manche Dinge viele Teile haben - ohne freilich von einer Mauer getrennt zu sein? Deutschland zum Beispiel. Der Käfer jedenfalls strampelt vergebens.

Tragikomisch auch die Arbeit von Andrea Pichl mit dem schlichten Titel "Ach." Eine Installation aus Gartenzaunelementen, die Ostsozialisierten bekannt vorkommen dürften, Spuren des Heimwerkens, Aufhübschens von gebrauchtem Material inklusive. Macht ein solches Aha-Erlebnis aber schon Heimat aus?, fragt sie. Was macht das kollektive Gedächtnis mit einem? Verdrängte Elemente dieses Gedächtnisses hat sie auf der Wand daneben festgehalten: mit Buntstift nachkolorierte Details aus der Stasihauptzentrale, die sie 2018 besuchte. 

Honeckers Tränen als Zimmerspringbrunnen. Auch Via Lewandowsky ist in "Ihr. Sentimentalitäten in Deutschland" im Kunstraum vertreten.
Honeckers Tränen als Zimmerspringbrunnen. Auch Via Lewandowsky ist in "Ihr. Sentimentalitäten in Deutschland" im Kunstraum vertreten.
© Ottmar Winter PNN

Mielkes Frühstückseier und Honeckers Tränen

Zu sehen sind: Gardinen, Zimmerpflanzen, Lampenschirme. Und eine Karteikarte, auf der Stasi-Chef Erich Mielke Anordnung zum gewünschten Frühstück gibt: "2 Eier, 4 1/2 Minuten kochen, vorher anpicken." DDR-Geschichte als Lach- und Sachgeschichtchen? Die Arbeiten von Andrea Pichl sind mehr; das echte Wasser-Tränen verspritzende Erich-Honecker-Porträt des gebürtigen Dresdners Via Lewandowsky will gar nicht mehr sein. 

Der Kölner Künstler Tom Korn bezieht mit einer für den Kunstraum entstandenen Serie schließlich deutlich Position: Ansichten von Potsdamer Ostmoderne in Form von Kartoffeldrucken auf bunten Wachstuchdecken. Die 2018 abgerissene Fachhochschule auf Uhren-Design, das Mercure-Hotel auf kleinkariertem Blau-Weiß. Der Titel: "Kartoffeldruck". Ja, mit Kartoffeln wurde hier gearbeitet. Aber Kartoffeln sind, Tom Korn zufolge, auch jene, die diese Gebäude und ihre Geschichte endgültig aus dem Potsdamer Stadtbild verschwinden lassen wollen. 

"Art. 8 GG Versammlungsfreiheit", 3. Oktober bis 10. Januar 2021 in der Villa Schöningen

"Ihr. Sentimentalitäten in Deutschland", 3. Oktober bis 1. November im Kunstraum Potsdam

Lena Schneider

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