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Rita Feldmeier in "Occident Express" von Stefano Massini, das am Freitag Premiere hatte.
© Thomas M. Jauk

"Occident Express" im Potsdamer Hans Otto Theater: Leben, eine Summe aus Begräbnissen

Konsequent, hochaktuell, mit einer großen Rita Feldmeier: „Occident Express“ am Hans Otto Theater erzählt mit einfachen Mitteln die Geschichte einer Flucht aus dem Nordirak ins Baltikum. Am Freitagabend war Premiere. 

Schon Spiel oder noch Probe? Das ist am Anfang dieses Abends eine angenehm irritierende Weile lang nicht ganz klar. Das Publikum sitzt schon, bestaunt im nüchternen Arbeitslicht die ungewohnte Bestuhlung des Großen Hauses, die – ein Novum – die Zuschauer, auf einem erhöhten Podest über den vorderen Sitzreihen und auf der Bühne selbst platziert hat. Auf Augenhöhe mit dem vierköpfigen Ensemble. Und dieses (Jonas Götzinger, Arne Lenk, Franziska Melzer und Rita Feldmeier) steht um einen Flügel herum, etwas ratlos. Summt sich warm, lockert sich auf, geht raus und wieder rein und beschaut sich das Publikum. Das Publikum schaut zurück und will gefüttert werden.

Dezidiert untheatermäßig geht „Occident Express“ in der Regie von Esther Hattenbach los, und in den guten Momenten dieses insgesamt sehr guten Abends knüpft es an diese Leichtigkeit, dieses Vielleicht-noch-hier-oder-noch-nicht-da wieder an. Dieses Dazwischen ist das Thema des Abends. „Occident Express“, 2016 geschrieben von dem florentinischen Dramatiker Stefano Massini, erzählt die Geschichte einer Flucht, einer Bewegung zwischen zwei – ach was: vielen – Orten. 

Haifa ist eine, die nie weg wollte aus ihrer Siedlung

Und „erzählt“ ist hier wörtlich zu nehmen. Der Text ist die Erzählung einer einzelnen Figur: der Flüchtenden. Haifa heißt sie, eine nicht mehr junge Frau aus Hulalyah, Nordirak, Großmutter einer vierjährigen Enkelin. Haifa ist eine, die nie weg wollte aus ihrer Siedlung, der von der eigenen Schwester attestiert wurde: „Du bist zur Sesshaftigkeit geboren.“ Haifa fand immer, dass das auch stimmt. Bis zu dem Tag, an dem ihre Siedlung angegriffen wird, alle Bewohner außer Haifa und ihre Enkelin getötet werden. Das macht aus der sesshaften Haifa eine Flüchtende.

Haifas Geschichte erzählt Rita Feldmeier. Manchmal spielt sie sie auch, dann ist sie Haifa. Aber den Großteil des nur anderthalbstündigen Abends steht Rita Feldmeier in der Bühnenmitte und erzählt, in der ersten Person. Von der Armut ihrer Siedlung, vom Tod, der dort zum Leben gehörte („Einmal sagte mir jemand, das Leben sei eine Summe aus Begräbnissen: Sie markieren die Etappen, eine nach der anderen“). Von den Toden, die sie selbst im Laufe ihres Lebens starb – als Kind, das den Tod kennen lernt, als Mädchen, das zum Frausein gezwungen wird, als alte Frau, die ihre Heimat verlassen muss. 

Rita Feldmeier trägt eine weiße Bluse und Jeans dabei, hat die blonden Haare zum Zopf gebunden: Nein, sie spielt Haifa nicht. Wir sehen eine europäische Frau; die arabische Greisin müssen wir uns vorstellen. Näher kann man diese Frau, diese Geschichte, die einem im schönen Potsdam so fern vorkommt wie eine Dürre in Äthopien, kaum an uns heranholen.

Fernab von tränendrüsenhafter Rührseligkeit

Dass „Occident Express“ das schafft, ohne dabei eine Flut an Stadttheatermitteln (Video, Sound, Projektionen) zu brauchen, ohne auch nur in die Nähe von tränendrüsenhafter Rührseligkeit zu kommen, macht den Abend stark. Das liegt an der, bis auf wenige Ausreißer konsequent dosierten Erzählhaltung, die die Regie durchhält – und die anderes konsequent ausblendet. Haifas Schwester, ihre Enkelin Nassim, die anderen drei Kinder, denen sie auf der Flucht begegnen wird, der Hirte, der ihr helfen wird, die Schlepper, die sie ausnehmen, die Grenzwächter, die sie anschnauzen – sie alle tauchen nicht auf. Oder vielmehr: Sie tauchen auf, aber nur in der Erzählung Haifas. 

Für Jonas Götzinger, Arne Lenk und Franziska Melzer hat das den Nachteil, dass sie über weite Strecken zu Statisten werden, also ihr Bestmögliches tun, um liegend, sitzend, kauernd, unsichtbar zu werden. Weil hier nicht im bekannten Sinne Theater gespielt wird, übernehmen sie auch keine Rollen, sondern bilden das begleitende Hintergrundrauschen für Haifas Erzählung. Die drei stehen als Chor im Programm, und als Backgroundchor funktionieren sie größtenteils auch: nehmen hier und da Sätze Haifas auf, ein mikroverstärktes Echo, das aus allen Ecken der Bühne herabrieselt: „Ich würde mich nicht wundern, wenn alles, was danach gekommen ist, eine Art Traum war“, zum Beispiel. „Oder schlimmer, dass ich noch mittendrin bin“, raunt es. Oder, später, nach den ersten beschwerlichen Stunden zu Fuß, in bedrückender Wiederholung: „Hast du Wasser?“ 

Wann sah man Rita Feldmeier so blank, so außer sich?

Rita Feldmeier zeigt hier, was ihr in den letzten Jahren teilweise verwehrt blieb, ihre große Kunst. Wann sah man sie zuletzt so blank, so außer sich? Jede Sentimentalität ist ihr fern, sie staunt, trotzt, schmollt, wütet eher, als dass sie mit ihrer Geschichte leidet. Was die Geschichte umso glaubwürdiger macht: Eine, die leidet, wäre so weit nicht gekommen. Sie hat die Chuzpe, die Kraft, den Lebenswillen und auch die Ellenbogen, die es braucht, um den Widrigkeiten am Weg zu trotzen. 

Kein Engel, keine nur Bemitleidenswerte ist ihre Haifa. Stattdessen immer auch nah dran am Kindlichen, momentweise fast am Naiven – an jenem trotzigen Tunnelblick, den es braucht, wenn man nur ein Ziel hat. In ihrem Fall: Überleben. 18 000 erzählte Kilometer umfasst dieser Abend, vom Irak bis ins Baltikum. Zu Fuß, auf einem Lastwagen unter Schafen versteckt, mit dem Auto, unterirdisch durch ein enges Rohr, eingezwängt in den Waggon eines Güterzuges, auf einem rostigen Schiff übers Meer, und schließlich, am 118. Reisetag, eingepfercht in einen Container mit der zynischen Aufschrift „Occident Express“. 

Irgendwann auf dieser Strecke, als Haifa sie fast geschafft geglaubt, hat der unsichtbare Chor doch noch einen großen Auftritt. Ein still gesungenes Schubert-Lied, vom Klavier begleitet. „Wie bald, ach wie bald kommt die stille Zeit,/ Da ruhe ich auch, und über mir/ Rauscht die schöne Waldeinsamkeit,/ Und keiner kennt mich mehr hier.“ Ein Trost, ein Ruhepol ist das, aber auch ein Hohn: Dass Menschen wie Haifa kaum zur Ruhe kommen können, auch wenn sie in Europa „angekommen“ sind, ist bekannt. Wie sehr sie genau das bräuchten, davon erzählt dieser Abend. Doch: Es ist ein großer.

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Das nächste Mal ist "Occident Express" am Sonntag, 28.10 sowie am Sonntag, 11.11. jeweils um 17 Uhr im Großen Haus des Hans Otto Theaters zu sehen

Lena Schneider

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