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Lauschen am Stromkasten beim "Electrical Walk" von Christina Kubisch.
© Manfred Thomas

Potsdamer Musikfestival "Intersonanzen": Lauschen am Stromkasten

Wie klingen elektromagnetische Wellen? Mit umgebauten Kopfhörern lassen sie sich hören - an der Ampel, im Kaufhaus und am Bankautomaten. Hörbeobachtungen beim "Electrical Walk Potsdam".

Potsdam - Kommt eine mundschutzversehene und mit klobigen Kopfhörern ausstaffierte sechsköpfige Gruppe auf der Brandenburger Straße daher. „Jetzt schützen die sogar die Ohren vor Corona – geil“, konstatiert belustigt Volkes Stimme. Und findet es ziemlich komisch, wie die Truppe zwischen zwei Läden hin und her geht, an den Sicherheitsschleusen horcht. Was die wohl im Schilde führen?

Nichts Gemeingefährliches treibt sie zu solchem Tun, sondern die pure Neugier. Mit diesen nach dem Tesla-Prinzip der magnetischen Induktion zu Kopfhörern umgebauten Kapselgehörschutzhilfen durchforscht die Schar unter Führung der Klangkünstlerin Christina Kubisch im Rahmen des „Intersonanzen“-Festivals der Neuen Musik Orte der Innenstadt. Der Samstagmittag ist dafür bestens geeignet, bislang ungehörte Dinge wie elektromagnetische Wellen, die einen fast überall umgeben, hörbar zu machen. Die spannende Entdeckungstour „Electrical Walks Potsdam“ macht’s möglich. Sie beginnt am Kunsthaus sans titre.

An einer Ampel überrascht starkes Knistern

Ein Stromkasten in der Nähe kündet von seiner Innentätigkeit mit intensiven Brummgeräuschen, die sich beim Kopfdrehen ändern. An einer Ampel überrascht starkes Knistern, während die Oberleitung der Straßenbahn ein wahres Knatterfeuerwerk hören lässt. Stattdessen entäußert sich der Bildschirm des Sparkassen-Geldautomaten mit gleichsam wassersprudelnder Freundlichkeit. Die Monitore anderer Bank-Automaten verkünden mit blubbernden oder rhythmisch pulsierenden Tönen ihre Unverwechselbarkeit. Am Variantenreichsten zeigen sich diverse Sicherheitsschleusen: zwischen morsezeichenartigem Brodeln, sonorem Brummen, wechselnden Tonhöhen und Rhythmen. Sehr differenziert geht es auch an erleuchteten Regaldisplays der Kosmetikabteilung bei Karstadt zu, wobei es Brummen in verschiedenen Tonhöhen zu entdecken gibt: zwischen klar und verschwiemelt (Dior) und aggressiv (Chanel). 

Elektromagnetische Wellen per Kopfhörer im Ohr beim "Electrical Walk".
Elektromagnetische Wellen per Kopfhörer im Ohr beim "Electrical Walk".
© Manfred Thomas

Ein Klanggewitter mit Singen, Pfeifen, Flugzeugmotorengebrumm entlädt sich dagegen während einer Busfahrt an der „Ziehharmonika“. Und wo gibt’s Oasen der Ruhe? Auf der Wiese vom Platz der Einheit oder im Innern der Wilhelmgalerie. All diese Klangeindrücke dürften sich ganz vorzüglich zu Sinfonien aus elektromagnetischen Wellen zusammenfügen lassen. Christina Kubisch ist dafür Spezialistin, arbeitet zurzeit an einem Klangprojekt mit Trolleybussen, die es nur noch in Eberswalde und Stuttgart gibt.

Das Festival ist diskussionsfreudig und polystilistisch geworden

Zurück im „sans titre“, sorgt der Auftritt des „Ensemble nusmido“ für die nächste Überraschung innerhalb des stilistisch vielfältigen, abwechslungsreichen, Verstand und Sinne gleichermaßen anregenden Gesamtprogramms zum Jubiläum 20 Jahre Intersonanzen. Im Laufe der Jahre hat sich das Festival aus einer vorrangig kompositionstechnisch orientierten, teilweise indoktrinär verschworenen Gemeinschaft von Avantgardisten zu einem offenen, diskussionsfreudigen und polystilistischen Freundschaftsbund entwickelt, der sich gleichgesinnte Interpreten nun zum Jubelfest eingeladen hat.

Im Kunsthaus sans titre gab es nach dem "Electrical Walk" Konzerte.
Im Kunsthaus sans titre gab es nach dem "Electrical Walk" Konzerte.
© Manfred Thomas

Wie das „Ensemble nusmido“, das sich auf die Interpretation der frühen Musik spezialisiert hat. Ausgehend vom Gesang der Gregorianik verstehen sich die vier Musiker nicht nur als Sänger, sondern auch als Instrumentalisten, Rezitatoren und stimmliche Geräuschnachahmer. Spannend zu erleben, wie sie sich in musikalische Dialoge mit zeitgenössischen Klängen begeben. Beispielsweise mit John Cages „ear for EAR“ oder seiner witzigen, Küchengerätschaften zum Klingen bringenden Komposition „Living Room Music“.  Dazwischen die musikalisch angelegte und lautstark gesteigerte Duo-„Récitation 10“ (1977-78) von George Apergis, der von drei Blockflöten begleitete artifizielle „Gesang“ eines Anonymus aus dem 15. Jahrhundert. Für weitere Glanzlichter sorgen die Uraufführung der Neufassung von „Licht 2“ für je zwei Flöten und Singstimmen von Susanne Stelzenbach, deren assoziationsreicher Text auf Wortverbindungen mit Licht und Schatten basiert. Nicht weniger originell die Verzahnung von Altmeistern (Guillaume de Marchaut, Johannes Ockeghem) mit Neutönern wie dem Polen Jan Cyž und seinem, dem Jubelfest gewidmeten Stück „dominusmido“.

„Watermark“ ist von Wasserzeichen im Papier inspiriert

Nur deutsche Erstaufführungen aus den Federn deutscher und polnischer Komponisten stehen dagegen auf dem Freitag-Programm des polnischen „Hashtag Ensemble“, dessen Musizieren mit Power und Spaß angenehm in die Ohren geht. Die Novitätenfolge wurde bereits am 7. August in Warschau uraufgeführt. Aus dem umfangreichen Angebot seien der Auftakt mit „BiPol III“ des Festivalchefs Thomas Gerwin erwähnt, bei der die drei Musiker bei jedem der fünf Sätze eine neue Sitzposition einnehmen. Des Potsdamer Gisbert Näthers quartettbesetztes „Watermark“ ist von schattenhaften Wasserzeichen im Papier inspiriert und suchen in experimentellen Klangstrukturen neue, lichtbrechende, verschwimmende, aber auch konturenscharfe Tonbilder zu zeichnen.

Peter Buske

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