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Der Berliner Schriftsteller Maxim Biller vor der Verleihung des Deutschen Buchpreises 2018, den er dann für "Sechs Koffer" nicht bekam, sondern Inger-Maria Mahlke für "Archipel".
© picture alliance/dpa

"Der falsche Gruß" von Maxim Biller: Komplizierte Biografien

Der Irrsinn des 20. Jahrhunderts und wie er bis in die Gegenwart reicht: Maxim Billers Roman "Der falsche Gruß".

„Ich bin Jude“, bekannte Maxim Biller vor über einem Jahrzehnt in seinem Selbstporträt „Der gebrauchte Jude“, „weil ich eines Tages merkte, wie sehr es mir gefällt, die anderen damit zu verwirren, dass ich Jude bin“.

Die anderen, damit waren die Deutschen gemeint, all die Menschen, mit denen er es in Deutschland zu tun bekam und die es zu verwirren galt seit seinen Anfängen als Journalist und Schriftsteller, unter anderem mit der „Tempo“–Kolumne „100 Zeilen Hass“.

Andererseits nahm der 1960 in Prag geborene und seit 1970 in Deutschland lebende Biller nie für sich in Anspruch, explizit für alle Juden in Deutschland zu sprechen. Dafür ist sein Ego zu ausgeprägt. Vergangene Woche erst hat er in seiner „Zeit“-Kolumne erzählt, wie er bei einem Abend in der Akademie der Künste den Autor und Lyriker Max Czollek angegangen ist.

Dieser sei für ihn kein Jude, so Biller, trotz Czolleks jüdischen Großvater. Er halte die Leute kaum noch aus, „die zurzeit als Faschings- und Meinungsjuden den linken Deutschen nach dem Mund reden“. „Check deine Halacha“, so Biller zu Czollek.

Und, etwas begütigender: „Ich fand mich etwas zu ernst, aber die Sache war ja auch ernst, weil inzwischen zu viele deutsche Intellektuelle in ihre gojischen Biografien jüdische Episoden und Leitmotive hineinredigierten.“ Überschrieben war die Kolumne mit „Der linke Intellektuelle Max Czollek und seine komplizierte Biografie“.

Die Herkunft ist für viele hier Ballast

Ähnlich komplizierte Biografien, gerade vor dem Hintergrund der brutalen historischen Turbulenzen des 20. Jahrhunderts, gibt es jetzt auch zuhauf in Billers neuem, mit 120 Seiten angenehm schlanken Roman „Der falsche Gruß“. Es geht darin um Lebensläufe in all ihrer Widersprüchlichkeit, mitunter angedeutet satirisch, um den Umgang der nachgeborenen Generationen mit dem Nationalsozialismus und Holocaust, und wie all das in unserer Gegenwart reicht.

Allein die Biografie des Ich-Erzählers Erck Dessauer ist verworren genug: der Vater trat 1968 nach dem Prager Frühling in die SED ein und lehrte bis zu seinem Selbstmord in Leipzig Marxismus-Leninismus.

Die Mutter ist Kind von Nazieltern und verschwindet 1996 in einem Trappistenkloster in Jerusalem, „eine irre Schuld-und-Sühne-Story“; und dann gibt es noch den anderen Großvater, Julius, der im Zweiten Weltkrieg in der Wehrmacht gekämpft hat, „wegen seiner halb-arischen Herkunft".

Julius versorgt seinen Enkel mit verbotener Kriegsliteratur, was diesen nicht zuletzt dazu animiert, in seinem Leipziger Kinderzimmer den verbotenen deutschen Gruß zu üben. Dessauers Widerpart ist der bekannte jüdische Publizist Hans Ulrich Barsilay, der mit „Meine Leute“ einen Bestseller geschrieben hat und „den sich unsereins dreimal am Tag wegwünschte, um trotzdem jeden seiner Artikel und Essays gierig zu lesen“.

Auch Barsilay hat Probleme mit seiner Herkunft: damit, dass „die Seinen“ sich im Ersten Weltkrieg für Deutschland töten ließen. Mit der Spitzeltätigkeit seiner Großonkel für Stalin. Oder dass sein Großvater Alfred, „der große Theaterkritiker“, zwei Jahre „zusammen mit Madame Goldschlag und dem Rest ihrer feinen Denunziantenclique durch Berlin-Mitte und Charlottenburg“ zog.

Im Vergleich zu den verschlungenen, mal schnell skizzierten, mal sich nach und nach ergebenden Biografien der meisten Figuren dieses Romans ist die Handlung eine dürre: „Der falsche Gruß“, den richtet Dessauer eines Abends im Berliner Restaurant „Trois Minutes“ Barsilay und seiner Runde aus.

"Meine Leute" heißt Barsilays Bestseller

Nun hat er Angst, dass Barsilay diesen Gruß gegen ihn verwendet und ihm seine Karriere als Romanschriftsteller ruiniert, vor allem die Veröffentlichung einer Biografie über einen Adlatus von Stalin. Aber Billers Erzählers weiß sich zu wehren. Er entlarvt Barsilay als Lügner: Dieser hat in seinem Bestseller den Bericht über einen Besuch der Gedenkstätten in Auschwitz gefakt.

Es ist nicht ganz leicht, dieser Binnenhandlung zu folgen, weil Biller mit vielen Zeitsprüngen arbeitet und die Herkunftsgeschichte seines Erzählers mit immer wieder neuen Details anreichert. Aber auch die der anderen Figuren: die von Barsilays Freundin Valeria, die von Lola, der Frau von Barsilays Anwalt, die von Naftali Frenkel, einem 1883 geborenen Juden aus Odessa oder Haifa, über den Dessauer die Biografie schreibt, „Eine sibirische Karriere“.

Und ganz am Ende noch die von Arafat, einem libanesischen Freund von Dessauer aus Leipziger Studententagen. Der wird 1988 am Tag der Arbeit von einer Horde Nazis verprügelt, ohne dass sich jemand von den vielen SED- und FDJ-Umzugskadern darum kümmert; ausgerechnet Arafat, der in der DDR studieren wollte und eben nicht in der BRD, weil seine kleine Schwester 1982 bei dem Massaker der Falangisten in den Lagern Sabra und Schatila unter den Augen untätiger israelischen Soldaten ums Leben kam.

Billers Roman, der ja wegen seiner Hitlergrußbegebenheit sowieso mehr eine Novelle ist, wirkt trotz seiner Kürze nicht gerade aus einem Guss, sondern mehr wie eine Aneinanderreihung von Biografien, die hier nach und nach wie aus einer Schublade herauspurzeln, letztendlich wie eine Miniaturausgabe von Billers 2016 veröffentlichten Großwerk „Biografie“.

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Nur ist der Unterhaltungswert größer. Nicht zuletzt, weil man sich bei den Beschreibungen von Dessauer und Barsilay zuweilen an Biller oder seinen Werdegang erinnert fühlt. Im Fall des Ich-Erzählers gibt es physiogonomische Ähnlichkeiten; im Fall von Barsilay ist es zum Beispiel dessen Erfolgsbuch „Meine Leute“.

Das wird einmal als „das dünne, schwarze Buch mit den hebräisch stilisierten Buchstaben“ bezeichnet (auch die Ausgabe von „Der gebrauchte Jude“ ist dünn und schwarz), in dem Barsilay von seiner „irren und wirren Familie“ erzählt – so wie Biller das gern tut, zuletzt in dem für den Deutschen Buchpreis 2018 nominierten Erzählreigen „Sechs Koffer“.

Oder da ist der Prozess, den Valeria gegen Barsilay anstrengt wegen seines Buches „Lustlos“. (von fern grüßt das nach wie vor verbotene Biller-Buch „Esra). Auch die ganz in schwarz gewandete „Verlegerin“, die Dessauers Buch veröffentlicht, meint man zu kennen, wie sie hier in ihrer ehemaligen Nazi-Villa in Sacrow die Buchpremierenfeier ausrichtet.

Miniaturausgabe von "Biografie", Billers Großwerk

Billers Erzählstil wird, anders als in „Sechs Koffer“, dieses Mal wieder bestimmt von seiner Vorliebe, reale Schauplätze reportagenhaft zu beschreiben, so den Teutoburger Platz in Mitte oder das „Trois Minutes“ in der Torstraße. Und von einer Neigung zu Adjektiven: Münder sind nicht nur geschminkt, sondern „sehr“ geschminkt, die Verlegerin hat nicht nur eine „tiefe“, sondern auch eine „immer etwas zu leise Hildegard-Knef-Stimme“, und Valeria hat eine „tiefe“, zudem „sehr weiche Miss-Wolgograd-Stimme“.

Eine Klasse für sich ist es wiederum, wie Biller unmerklich Sätze direkt aus unserer Debattenkultur in seine Erzählung schreibt. So als Dessauer in der Villa der Verlegerin überall noch meint, die Nazis zu sehen, die hier einst ihre Pläne schmiedeten. Er fragt sich: „Und wann würden sie endlich unsere Gegenwart verlassen?“

Oder als Dessauer seine Moral gegen die von Barsilay aufrechnet, er, der zwar den Hitler-Gruß macht, aber alles von Primo Levi, Imre Kertész und Tadeuz Borowski gelesen hat. Und dann sein Gegenüber mit der gefälschten Ausschwitz-Reportage: „Wer missbrauchte dieses Menschheitsverbrechen für seine egoistischen Zwecke? Ich oder er?“

Es endet, wie eine gute Kolumne endet, mit dem Unerwarteten – so wie Maxim Biller sich auch am Schluss seiner Max-Czollek-Kolumne fragt, „ob er selbst wirklich recht hatte.“ Doch in der Literatur braucht man sich solche Fragen nicht zu stellen. „Der falsche Gruß“ ist Literatur, wie sie nur ein Schriftsteller in Deutschland schreiben kann.

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