Programmreform im RBB Kulturradio: Klassische Musik braucht keinen Wohlfühlfaktor
Das RBB Kulturradio hat seine Musikauswahl umgestellt. Es erklingen jetzt nicht mehr nur Beethoven & Co, der Sender will ein jüngeres Publikum erreichen.
Ludovico Einaudi, Mia Brentano, Florian Christl, Ed Sheeran, Yiruma, Yann Tiersen – jede Menge neue Namen tauchen da seit zwei Wochen im Musikprogramm des RBB Kulturradio auf. Bislang lief hier ausschließlich klassische Musik, doch die neue Programmchefin Verena Keysers hat dem Sender einen Wechsel in der Musikfarbe verordnet. „Modern“ soll es sein, „urban“, „überraschend anders“, „vielfältig“ und „facettenreich“.
Klassik mögen nur wenige Prozent der Gesamtgesellschaft, Keysers aber will mehr Menschen ansprechen, vor allem unterhalb des Renteneintrittalters. Darum erklingen neben Bach, Beethoven, Brahms und Co. jetzt auch Jazz, Chanson, Filmmusik, Pop und New Classics.
Soundtracks goutieren viele Menschen, die freiwillig nie einen Konzertsaal betreten würden. Dabei plündern Filmmusik-Komponisten wie John Williams auf der Suche nach Inspiration die Partituren von Wagner, Strauss und sämtlichen Spätromantikern, aber auch von den französischen Impressionisten oder dem Rhythmus-Revolutionär Igor Strawinsky. Aus den besten Effekten der Vorbilder montieren sie dann eine Art Glutamat-Klassik.
Weil Filmmusik meist zur akustischen Verstärkung der optischen Reize eingesetzt wird und sich zudem sekundengenau an die Länge der jeweiligen Szene halten muss, sind die Komponisten gezwungen, schnell auf den Punkt zu kommen, emotional mit der Tür ins Haus zu fallen. Darum nutzen sie klangliche Geschmacksverstärker. Autonome, also nicht an außermusikalische Faktoren gebundene Musik ist dagegen komplexer – zumindest in ihren Meisterwerken –, lässt sich mehr Zeit für Entwicklungen und arbeitet detaillierter als Filmmusik. Darum ist sie schwerer konsumierbar.
Kritik gab es schon 2004 nach der Sender-Fusion
Wenn Verena Keysers nun also auch Ausschnitte aus Soundtracks ins Programm von RBB Kulturradio einspeisen lässt, will sie damit Hörerinnen und Hörern entgegenkommen, die sich nicht lange konzentrieren können – oder wollen. Auch auf die Gefahr hin, damit die Stammklientel zu vergraulen, die auf Unterkomplexität oft allergisch reagiert.
Was für einen Sturm der Entrüstung löste im Dezember 2003 die Entscheidung aus, beim neu geschaffenen RBB Kulturradio, einer Fusion der Kulturwellen von ORB und SFB, nicht mehr komplette Sinfonien, Streichquartette oder Sonaten zu spielen, sondern nur noch einzelne Sätze. Ein Aufschrei ging durch die bürgerlichen Kreise der Stadt angesichts dieser „Häppchen-Klassik“, der Anwalt und Mäzen Peter Raue sprach in einem vom Tagesspiegel veröffentlichten „Wutanfall“ von „Kulturzerstörung“. Denn nicht nur das Prinzip, bei der Musikauswahl stets das ganze Werk zu spielen, wurde damals geschleift, es verschwanden auch anspruchsvolle Diskursformate etwa aus dem Bereich der Literatur.
In der Tat war das Konzept des „Durchhörradios“ damals neu für die Klassik-Klientel. Gemeint ist damit allerdings nicht, dass man durch die Musik hindurchhören soll, sondern den Sender ruhig den ganzen Tag lang laufen lassen kann, als akustischen Begleiter. Oder, wie die Kritiker sagen, als Klangtapete. Der „Dudelfunk“ funktioniert seit Ewigkeiten so.
Musik für jede Lebenslage
Beschränkte sich die Klangtapetenfunktion früher zumeist auf Tätigkeiten wie Putzen, Aufräumen oder Kochen, wird sie mittlerweile gerne auch beim Lernen oder Lesen genutzt. Gerade Teenager und junge Erwachsene wählen dazu oft auch Musik in klassischer Anmutung. Zwischen den Originalen und zeitgenössischen Nachfolgeformen unterscheiden sie dabei oft nicht, denn die Musikauswahl überlassen sie den Streamingdiensten.
Also Anbietern, die gigantische Tonarchive zum digitalen Abruf bereithalten. Im Online-Orbit finden sich unzählige Playlists, zur akustischen Grundierung jeder nur erdenklichen Tätigkeit. Sie heißen „Beats to think to“, „Brain Food“, „Reading Soundtrack“, „Workday Jazz“, „Kitchen Swagger“, „Get things done“ oder auch „Sleepy Piano“.
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In vielen Playlists der Streamingdienste werden Kompositionen aus allen Epochen wild gemixt, wie jetzt auch beim RBB Kulturradio. Besonders beliebt ist eine Spielform, die Neoklassik oder New Classics heißt. Die ist fast immer instrumental, oft von der Wiederholungsästhetik der Minimal Music geprägt, tendenziell eher meditativ und/oder melancholisch. Hauptinstrument ist das Piano, wenn Orchester zum Einsatz kommen, wird es schnell auch mal pathetisch-bombastisch.
So unterschiedlich die Komponisten und Komponistinnen stilistisch auch sein mögen, gemeinsam ist ihren Werken der Wohlfühlfaktor. Damit hebt sich die Neoklassik zum einen gegen die zeitgenössische „ernste“ Musik ab. Denn die Neutöner fordern seit den Zeiten von Arnold Schönberg das Publikum dadurch heraus, dass sie die Fesseln der Tonalität abstreifen, um sich ihr eigenes künstlerisches Universum zu erschaffen – in das sich die Hörerinnen und Hörer dann einzuarbeiten haben.
Das Äquivalent zum Veggieburger
Bei der Neoklassik dagegen herrscht immer Harmonie – und zwar „unplugged“. Anders als in Pop und Rock werden die Instrumente nicht elektronisch verstärkt, was ihnen eine irgendwie klassische Aura verleiht.
New Classics sind das Äquivalent zum Veggieburger. Was nach Klassik klingt oder sich im Mund wie Fleisch anfühlt, ist weder das eine noch das andere. Kann aber trotzdem glücklich machen. Als Alternative zum Altbekannten. Vor vier Monaten erst hat sich das EU-Parlament dafür ausgesprochen, dass vegane und vegetarische Produkte aus Tofu, Soja, Pilzen oder Sellerie weiter als Schnitzel oder Wurst verkauft werden dürfen.
Landwirtschaftsverbände wollten das als Vorspiegelung falscher Tatsachen verbieten lassen. In der Musikwelt gibt es weder eine Behörde, die Herstellungsnormen erlässt, noch eine Geschmackspolizei, zumindest keine mit exekutiver Zuständigkeit. Weshalb die New Classics ihre irreführenden Genrebezeichnung wohl so lange unbehelligt führen werden, bis jemand eine treffendere Gattungsbezeichnung erfindet.
Verena Keysers, die Programmchefin des RBB Kulturradio, schwärmt von ihrer „handverlesen kuratierten“ Musikauswahl, die den Hörerinnen und Hörern eine „einzigartige Mischung“ biete. Tatsächlich aber deckt sich das neue, buntscheckige Profil des Senders auffällig mit dem Selbstbild eines kommerziellen Konkurrenten: „Klassik Radio“ nämlich, wo schon seit einer Ewigkeit Klassik, Filmmusik und New Classics gemixt werden. „Musik zum Entspannen und Genießen“ heißt der Klassik-Radio-Werbeslogan. Das neue RBB Kulturradio könnte jetzt mit einer Abwandlung des beliebten Pop-Dudelwellen-Claims dagegenhalten: „Die größten Hits der 1770er, 1880er und das Beste von heute“.