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In Céline Sciammas „Petite Maman“ begegnet die achtjährige Nelly beim Spielen ihrer gleichaltrigen Mutter.
© Lilies Film

Berlinale im Lockdown, vorletzter Tag: Kinder an die Macht

Träumen im Heimkino: Die Branchen-Berlinale geht mit Filmen von Céline Sciamma, Alexandre Koberidze und Maria Speth in die Zielgerade.

Träumen Filmemacher:innen eigentlich mit Ton? Und wie ist die Materialität ihrer Träume beschaffen: 8mm-Körnigkeit, HD oder sind sie – dem Klischee gemäß – sepiafarben mit Unschärfen hin zu den Rändern? Und wenn das Kino tatsächlich eine Projektion unserer Träume darstellt, was heißt das dann für diese Berlinale, die man sich als Filmjournalist noch bis Freitag auf dem heimischen Computer ansehen darf? Oder eher: ansehen muss?

Solche Fragen beschäftigten am Mittwoch die diesjährige Wettbewerbs-Jury bei einem publikumsöffentlichen digitalen Filmgespräch im Rahmen der Berlinale Talents (dieses Jahr unter dem Motto „Dream On“). Die Jury-Mitglieder haben je ein Bild mitgebracht, über das sie mit Carlo Chatrian sprechen. Das des israelischen Regisseurs Nadav Lapid (Goldener Bär 2019 für „Synonymes“) zeigt einen Laptop, ein Glas Wasser, eine Kaffeekanne: ein Berlinale-Stillleben.

Lapid muss – wie Mohammad Rasoulof – Berlin fernbleiben; die übrigen vier Juror:Innen sehen sich die Filme gemeinsam im Kino an. Er verfolgt das Festival also unter denselben Bedingungen wie die Presse. Es klingt im Moment wenig tröstlich, wenn er das Kino mit einem Märchenreich vergleicht; aber immerhin ist es ein Hoffnungsschimmer. Dass das Kino ein Ort ist, an dem noch Märchen und Wunder geschehen, zeigt der diesjährige Berlinale-Jahrgang eindrücklich.

Die ungarische Regisseurin Ildikó Enyedi (Goldener Bär 2017 für „Body and Soul“, auch ein Film über Träume) sekundiert Lapid. Sie hat ein Kinderfoto mitgebracht, das sie als Baby im Arm ihres Vaters zeigt, und die Mutter daneben. Kindheitserinnerungen seien für sie wie Träume, etwas Vorsprachliches, unwirklich und gleichzeitig gestochen scharf. Vielleicht nimmt das Kino auch deswegen so gerne die Perspektive von Kindern ein; gerade sie sind klarsichtig in ihre Beobachtungen.

Lebenswirklichkeit zweier Achtjähriger

Bestes Beispiel ist „Petite Maman“ von Céline Sciamma ("„Porträt einer jungen Frau in Flammen“). Die Regisseurin sagt, dass sie sich ihren Film erträumt habe, ihre Bilder vermitteln diese unwirkliche Qualität. Die Oma der achtjährigen Nelly ist gestorben. Das Mädchen begleitet seine Mutter Marion in das Haus ihrer Kindheit, wo sie der Vater erwartet.

Als Marion über Nacht verschwindet, muss Nelly die Beziehung zu ihrer distanzierten Mutter allein verstehen lernen – und sie tut das auf eine aus Kindersicht plausible Weise. Beim Spielen im Wald begegnet ihr Marion als achtjähriges Mädchen. Mutter und Tochter bauen ein Baumhaus, backen Pfannkuchen und erfahren Dinge über sich, die mit einem Altersunterschied von über 20 Jahren noch unaussprechlich sind.

Man könnte „Petite Maman“ als Versuchsaufbau abtun, aber Sciamma ist eine viel zu intuitive Filmemacherin, um allein auf Psychologie oder märchenhafte Motive zu vertrauen. In nur 70 Minuten beschreibt sie eine greifbare Lebenswirklichkeit aus der Sicht zweier Achtjähriger, gespielt von den Zwillingsschwestern Joséphine und Gabrielle Sanz. Und trotzdem eröffnet ihr Film ein kleines Märchenreich.

Poetisch weitschweifig, schwerelos

Der georgische Regisseur Alexandre Koberidze, Absolvent der Berliner Filmhochschule Dffb, will gar nicht verhehlen, dass sein Film „Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen?“ ein modernes Märchen ist.

Es gibt einen Erzähler, einen bösen Fluch, der Liebende trennt, Tiere mit menschlichen Eigenschaften (zwei Hunde sind Fußballfans), zahlreiche Kinder (wieder!) sowie lichte, sonnendurchflutete Bilder, die auch einfach dem georgischen Sommer geschuldet sein könnten. Vor allem aber ist „Was sehen wir...“ mit 150 Minuten, die einer assoziativen Logik folgen, die Gegenthese zur erzählerischen Ökonomie von Sciamma.

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Aber die Beiläufigkeit, mit der Koberidze seinen Figuren folgt, statt sie lediglich in den Dienst einer Geschichte zu stellen, seine poetische Weitschweifigkeit, die darüber nie ihre Leichtigkeit verliert (eines von vielen Highlights: das Zeitlupenballett einer Gruppe Straßenkicker, Jungen und Mädchen, zur 1990er WM-Hymne von Gianna Nannini) – all das zeugt von einem ausgeprägten Selbstbewusstsein, das mit viel Empathie und Liebe zum Detail gesegnet ist.

Am Lehrer ist ein Filmstar verlorengegangen

Der dritte „Kinderfilm“ mit Bären- Chancen könnte kaum weiter von Sciamma und Koberidze entfernt sein. Und doch beschreibt auch er einen traumhaften Idealzustand. Maria Speths Dokumentarfilm „Herr Bachmann und seine Klasse“ begleitet über 210 Minuten den Lehrer einer sechsten Klasse in einer Kleinstadt mit vielen Kindern aus Migrantenfamilien (Bulgarien, Marokko, Italien) durchs Schuljahr.

Der 60-jährige Bachmann, Lehrer auf dem zweiten Bildungsweg, probt mit den Kids im Unterricht Deep Purple, haut aber auch schon mal auf den Tisch. Die Pädagogik von Speths Film erklärt sich eher implizit, in der Pragmatik des Erziehers, an dem ein Filmstar verlorengegangen ist (Jack Black in „School of Rock“). Herr Bachmann will aus den Kindern gute Menschen machen, inklusive Mathe und Grammatik – und nicht zuerst gute Deutsche. Genau deswegen gibt es gerade auch keinen schöneren, klügeren Film über Deutschland im Jahr 2021.

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