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Ob das Weiße Haus einen neuen Bewohner bekommt oder nicht, entscheidet sich nächste Woche.
© imago images/ITAR-TASS

Sasha Marianna Salzmann im Gespräch mit Masha Gessen: Amerikas fehlerhafte Idee von Demokratie

Warum blinder Glaube an die Institutionen gefährlich ist und Trumps Versprechungen für viele seiner Landsleute attraktiv erscheinen.

Masha Gessen lebt in New York, war sowohl in den USA als auch in Russland journalistisch tätig und schreibt seit 2014 für den „New Yorker“. Im vergangenen Jahr erhielt Gessen den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung und den National Book Award für „Die Zukunft ist Geschichte. Wie Russland die Freiheit gewann und wieder verlor“. Gessen identifiziert sich als nonbinär, genau wie Sasha Marianna Salzmann. Salzmann lebt in Berlin und ist Theaterautor*in, Essayist*in und Romancier. 2017 erschien das Romandebüt „Außer sich“. Salzmann interviewte Gessen in Bremen bei der „Globale – Festival für grenzüberschreitende Literatur“ per Videochat. Wir dokumentieren eine gekürzte Version des Gesprächs.

Masha Gessen, in Ihrem Artikel „Autocracy: Rules for survival“, der später zu einem Buch erweitert wurde, formulieren Sie als erste Regel „Glaube dem Autokraten, er meint genau das, was er sagt“. Die zweite Regel ist „Lass dich nicht einnehmen von kleinen Zeichen der Normalität“ und die dritte „Die Institutionen werden euch nicht retten.“ Lassen Sie uns da anfangen: Warum werden die Institutionen keinen autokratischen Versuch abwehren können?
Ich glaube, dass Amerikaner*innen einen religiösen Glauben in Institutionen haben. Die Verfassung ist ihre zivile Religion. Und alle Institutionen, die die Verfassung durchsetzen, sind die Ausführenden dieser Religion auf Erden. Und ich denke, dass die amerikanische Bevölkerung wirklich, wenn nicht heute, dann auf jeden Fall 2016, fest geglaubt hat, dass die Gründungsväter ein perfektes System geschaffen haben

Und dass es unsere Aufgabe ist, dieses zu erhalten, die Wände hier und da zu streichen, aber im Grunde genommen: darin zu leben. Das ist eine seltsame Idee von Demokratie und wie ich finde eine grundsätzlich fehlerhafte. Als sei Demokratie ein vorgefertigtes Umfeld und nicht eine Idee, ein Traum, ein Streben nach dem, was ich für Demokratie halte.

Der Kern einer Demokratie ist das Recht zu wählen, und das ist in den USA nicht wirklich gegeben. Im Electoral Integrality Index belegt das Land den letzten Platz unter allen westlichen Demokratien. Sie schreiben in Ihrem Buch sinngemäß: Wenn Amerika eine Demokratie sein will, muss es sich neu erfinden. Welche Neuerfindung stellen Sie sich vor?
Zunächst glaube nicht, dass Wahlen essenziell für eine Demokratie sind. Ich glaube, dass die Demokratie – wenn wir Glück haben, unter den besten Umständen – durch Wahlen unterstützt wird. Das wäre im bestmöglichen Szenario.

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Aber die Athener waren Wahlen gegenüber sehr misstrauisch. Warum? Weil sie befürchteten, dass Wahlen Autokraten an die Macht bringen würden. Und die Reichen und die Gebildeten. Das genau ist, womit wir es gerade zu tun haben. Wir haben ein System, das – fast per Definition – die Reichen und Gebildeten bevorzugt. Hier trifft die amerikanische Idee der Demokratie auf die amerikanische Idee von Meritokratie. Wie wir das in Einklang bringen mit der Idee von einer Regierung durch die Regierten, ist mir nicht ganz klar.

Was könnte helfen?
Momentan ähneln unsere Wahlen eher Castings und Vorstellungsgesprächen. Das wäre etwas, das wir neu denken müssten. Wir müssen uns nicht von Wahlen verabschieden, aber wir müssen die Art ändern, wie wir über Wahlen denken und wie wir sie ausführen. Derzeit kaufen sich alle Kandidat*innen ihren Weg ins Weiße Haus. Nicht wie das in manchen osteuropäischen Ländern der Fall ist, wo man sich tatsächlich einkauft, aber durch Geldspenden, Versprechungen.

Masha Gessen wurde 1967 in Moskau geboren und kam mit 14 Jahren in die USA.
Masha Gessen wurde 1967 in Moskau geboren und kam mit 14 Jahren in die USA.
© Jan Woitas, dpa

Sie beschreiben Trumps Versprechen an seine Wählerschaft so: Er gibt vor, die Amerikaner*innen in eine imaginierte Vergangenheit zurückzubefördern, die nie existiert hat. Dort ist es warm und sicher, und er kümmert sich um den Rest. Das ist für mich persönlich interessant, denn so beschreiben Sie auch Putin. Wie können diese beiden so grundverschiedenen Länder an einem so ähnlichen Punkt der Geschichte landen?
Das erinnert mich an eine lustige Unterhaltung, die ich mit diesem wundervollen russisch-israelischen Wissenschaftler namens Michael Philipov hatte, als ich dort war, um über das russische Wahlverhalten und dessen Auswirkungen auf Israel zu berichten. Und Russ*innen hatten einen verheerenden Effekt auf Israel.

Michael Philipov sagte, dass er die russische Emigration so viele Jahre studiert und diese ganze Theorie erarbeitet hat, warum das russisch-israelische Verhalten so war, wie es war; unter anderem hat es mit ihrem sowjetischen Hintergrund zu tun und der Tatsache, dass die meisten von ihnen Ingenieure waren und daran glaubten, dass es immer eine perfekte Lösung für alles geben muss.

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Es ist eine wundervolle Annahme, dass es immer eine richtige Lösung für alles gibt. Im Gegensatz zur Demokratie, in der es immer nur nicht perfekte Lösungen gibt. So waren also die Theorien dazu. Und dann, sagte er, fing plötzlich ganz Israel an, so zu wählen. Und als er sich daran machte, seine Ideen zu überarbeiten und zu überdenken, wählte Amerika Donald Trump.

Sasha Marianna Salzmann wurde 1985 in Wolgograd geboren und kam 1995 nach Deutschland.
Sasha Marianna Salzmann wurde 1985 in Wolgograd geboren und kam 1995 nach Deutschland.
© Heike Steinweg

Sagen Sie, dass wir – die ehemaligen Sowjetbürger*innen – daran Schuld sind?
Ich glaube nicht, dass wir es waren. Und ich glaube nicht, dass er meinte, dass russische Kräfte daran schuld sind. Er meinte wohl, dass es darin liegt, dass ein größerer, universeller, menschlicher Makel daran schuld sei. Als ich „Die Zukunft ist Geschichte“ schrieb, ein Buch darüber, wie der Totalitarismus Russland zurückeroberte, benutze ich das Werk von Erich Fromm, der über Nazi-Deutschland schrieb.

Seine Theorie ist simpel, und genial: dass es Zeiten in der Geschichte der Menschheit gibt, in denen die Zukunft zu viel für die Menschen wird. Sie ruft Beklemmung und Existenzängste hervor, so dass die Menschen ihre Fähigkeit verlieren, sich eine Zukunft vorzustellen oder zumindest eine Zukunft ohne Angst.

Manche Menschen gehen in diesem Raum der Möglichkeiten auf, aber die meisten Menschen empfinden es als zu viel. Ihre Beklemmung ist zu groß und sie wollen ihr Handeln irgendjemandem übertragen, nur um diese Beklemmung loszuwerden. Und das ist der Punkt, an dem ein Martin Luther oder ein Adolf Hitler auftaucht und sagt, ich nehme deine Handlungsmacht und befördere dich zurück in die Vergangenheit und gebe dir Sicherheit. Und ich glaube, dass das unsere Situation in den Vereinigten Staaten ist.

Sie arbeiten in Ihren Büchern und Essays immer wieder mit Erich Fromms Theorie von Freiheit: einer Freiheit zu und einer Freiheit von. Die Idee einer „positiven“ und einer „negativen“ Freiheit. Was ist die amerikanische Freiheit? Gibt es eine solche im „Land of the Free“?
Der amerikanische politische Diskurs wird dominiert von Ideen der negativen Freiheit. Freiheit von der Kontrolle der Regierung, Freiheit von Richtlinien, was zu tun wäre. Positive Freiheit ist viel komplizierter, es ist die Freiheit, Dinge zu erschaffen, die Freiheit zu Sein oder in Fromms Paradigma, die Freiheit, sich selbst zu erfinden. Nun, diese Art von produktiver Freiheit, positiver Freiheit, der Freiheit zu, ist eine Freiheit, die von einer Gesellschaft abhängt, die Schutz und Sicherheit garantiert, was der Wohlfahrtsstaat leisten müsste. Diese und sich gegenseitig in Sicherheit zu wissen.

Der Kampf um Maske-Tragen oder keine Maske-Tragen ist eine Art Karikatur des Kampfes zwischen positiver und negativer Freiheit. Positive Freiheit ist die Art von Freiheit, wo wir aufeinander Acht geben, und deshalb Masken tragen. Negative Freiheit ist die Freiheit, sich nichts sagen zu lassen.

Sehen Sie hier das komplette Gespräch:

Noch einmal zur imaginierten Vergangenheit, die versprochen wird: Es gibt noch einen Punkt, der für mich sehr wichtig ist, und das sind die LGBT-Rechte. Sie schrieben in der „New York Review of Books“ im Artikel „Warum Autokraten LGBT-Rechte fürchten“: „Queere Rechte sind oftmals die eine entscheidende Grenze im globalen Turnus gegen Autokratie.“ Warum?
Es gibt zwei Gründe und die sind verbunden. Die Autokraten kommen an die Macht durch das Versprechen einer imaginierten Vergangenheit, und um ihren Worten Nachdruck zu verleihen und um den Leuten ein Gefühl von Sicherheit zu geben, müssen sie eine der letzten sozialen Errungenschaften wieder rückgängig machen.

Und das sind, fast überall auf der Welt, die LGBT-Rechte. Die Wahrnehmung von LGBT-Menschen und ihren Belangen hat sich in den letzten zehn oder 20 Jahren drastisch und extrem schnell verändert. Ein anderer Grund ist, dass wir als queere Menschen Erfinder*innen unserer eigenen Identität sind. Das ist etwas, was uns von sehr vielen anderen Minderheiten unterscheidet. LGBT-Menschen werden nicht von anderen LGBT- Menschen großgezogen, sie werden nicht alt unter LGBT-Menschen.

Was wird in der Wahl-Woche und in den Wochen danach Ihrer Meinung nach passieren?
Wir werden sehr wahrscheinlich nächste Woche keine Wahlergebnisse haben. Es gibt dieses wirklich optimistische Szenario, in dem Joe Biden mit einem Erdrutsch die Wahl gewinnt. Nehmen wir an, er gewinnt Florida oder Texas und das war’s. Dann versucht Donald Trump dies anzufechten, aber eigentlich ist es dann vorbei. Das ist das bestmögliche Szenario, wahrscheinlich ist es allerdings nicht.

Was viel wahrscheinlicher ist, ist ein geplanter, schmutziger Kampf, der – selbst wenn Biden gewinnt – Trump dennoch Raum gibt, die Ergebnisse ungültig zu machen und die Drohung von Gewalt auf den Straßen zu nutzen, um einen erzwungenen Frieden herzustellen.

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