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Waffen als Spielzeug. Eine Generation wuchs in Europa ohne Krieg auf.
© imago images/Cavan Images

Das Ende der Generation Frieden: Heute ist Krieg für mich Realität geworden

Der 24. Februar 2022 wird ein denkwürdiger Tag bleiben: Die russische Invasion in der Ukraine konfrontiert junge Menschen erstmals mit militärischer Aggression in Europa.

Donnerstagfrüh erreichte der Krieg auch Instagram mit aller Wucht. In Videos heulen die Sirenen in Kiew. Bilder der ersten Detonationen russischer Raketen. Putins Panzer rollen über die ukrainische Grenze. „Wir sind heute in einer anderen Welt aufgewacht“, sagte die deutsche Außenministern Annalena Baerbock am Morgen. Für viele junge Menschen ist es der erste Krieg in Europa, den sie bewusst erleben. Auch für mich.

Was man am 11. September 2001 gemacht habe? Es ist eine beliebte Frage unter Millennials. Ich erinnere mich an die Ohnmacht eines 14-Jährigen angesichts des unwirklich anmutenden Einbruchs von Gewalt. Ein Freund hatte angerufen, mit den Worten: „Mach den Fernseher an, der Dritte Weltkrieg beginnt.“ Am Donnerstagmorgen schreiben wieder junge Menschen in den Sozialen Medien, man stünde „am Rande eines Weltkriegs“. Sind die apokalyptischen Fantasien über eine militärische Entgrenzung begründet oder verzweifelte Gesten der Bewältigungsstrategie einer Generation, die nie einen Umgang mit Krieg finden musste?

Die hochgerüstete Welt am atomaren Abgrund ist für mich eine Erzählung aus Katastrophenfilmen. Unwirklich für all jene, die ab den späten 1980er Jahren geboren wurden. Die Großmutter langweilte mit der immer wieder aufgetischten Erzählung, wie sie während der Kuba-Krise in der Nacht vor dem Radio saß und wartete, dass die Welt untergeht. Selbst die drastischen Erinnerungen des Großvaters vom Schlachtfeld nutzten sich ab. Seine Mahnungen, dass es jeder Zeit wieder zu Krieg in Europa kommen könnte, wenn man nicht aufpasst, sie verhallten in einer unbeschwerten Kindheit. Unser Grundschullehrer verkündete, dass wir die erste Generation seien, die niemals mit Krieg konfrontiert sein dürfte. Zumindest nicht unmittelbar.

Krieg gab es nur im Film

Selbst die Jugoslawienkriege änderten an dieser Gewissheit wenig. Mein Vater stellte sich während der Nachrichten vor den Fernseher, weil die gezeigten Bilder nicht für Kinder geeignet seien. Eine geflüchtete bosnische Familie lebte monatelang bei uns im Haus. Über das Erlebte wollte sie nicht reden.

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Der Krieg, das waren Filme wie „Der Soldat James Ryan“, „Black Hawk Down“ oder die Serie „Band of Brothers“. Hollywood-Geschichten zum Mitfiebern. Brutal, aber ungemein spannend. Und nach 90 Minuten auch wieder vorbei. Krieg, das war das, was uns auf Netzwerkpartys nächtelang beste Unterhaltung bot, wenn wir unsere Städte in Computerspielen gegenseitig mit Anthrax- und Atomraketen ausradierten. Krieg, das waren mit Legomännchen nachgebauten Schlachtfelder. Die Holzgewehre, Erbsenpistolen und Tannenzapfen-Handgranaten.

Der Irakkrieg politisierte viele der Generation Y. In eine Pace-Fahne gehüllt, stand ich als Jugendlicher am 15. Februar 2003 in Berlin mit 500.000 Menschen auf der größten Friedensdemonstration in der Geschichte der Bundesrepublik. Aber Bagdad, Basra und Mossul waren weit weg. Die Bilder im Fernsehen unterschieden sich kaum von den Actionsequenzen aus Egoshootern. Die live übertragenen Staubfahnen der Panzer in der Wüste. Endlosschlaufen von Raketeneinschlägen. Grelles Mündungsfeuer im Dunkeln.

Putin droht unverhohlen mit Nuklearwaffen

Die Detonationen im nächtlichen Kiew dagegen wirkten so nah, dass man in der Berliner Morgendämmerung beinahe glaubte, sie hören zu können. Auf Twitter schreibt jemand, die Menschen in den Luftschutzbunkern in Lwiw befänden sich näher an der deutschen Hauptstadt, als die Cafés am Champs-Élysées, die Mailänder Scala oder die Tower Bridge. Ein ehemaliger Kommilitone, promovierter ukrainischer Philosoph, sagte bei unserem letzten Treffen, er müsse zurück, wenn Putin einmarschiert. Sein Land verteidigen. „Kant gegen Kalaschnikow tauschen“, witzelte er da noch.

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Als Volontär nahm ich mal an einer Pressereise in die USA teil. Die Bundesregierung suchte damals nach einem Nachfolger für die Tornado-Kampfflugzeuge. Ein Kandidat war der Tarnkappen-Jet F-35 Lightning II. Bei Besuchen auf Luftwaffenstützpunkten und in Rüstungsunternehmen priesen Piloten und Manager die Überlegenheit der Technologie an. Befremdlich wirkten auf mich die Debatten der Delegation, ob die Maschinen dafür geeignet seien, Atomwaffen zu transportieren. Journalisten durften mit dem futuristisch anmutenden Jet Selfies machen und seine Vorzüge im Flugsimulator kennenlernen. Da „schoss“ man auf russische Suchoi-Maschinen.

Vor wenigen Tagen verlegte US-Präsident Joe Biden F-35-Kampfjets in die Eifel. Längst droht Putin unverhohlen mit Nuklearwaffen. Von seiner Eskalationsbereitschaft wird es abhängen, ob die junge Generation sich bald erzählen wird, was sie am 24. Februar 2022 gemacht hat.

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