Mithu Sanyals Roman „Identitti“: Hautfarbe als soziales Konstrukt
Mithu Sanyal spielt in ihrer furiosen Satire „Identitti“ einige provokante Thesen über kulturelle Identität durch. Ihr Witz fehlt in der Debatte viel zu oft.
Für eine Studentin der „Intercultural Studies“ mit Hormonstau ist die blauhäutige, vielarmige Göttin Kali eine perfekte Sexfantasie. Kali verfügt über eine sehr lange Zunge, kann dank ihrer vorteilhaften Physiognomie mehrere Bedürfnisse gleichzeitig befriedigen – zum Beispiel Umarmen und Würgen, aber so kinky sind Niveditas Fantasien auch wieder nicht –, sie liegt beim Sex mit Shiva oben und genießt als Person of Color im Pantheon hinduistischer Gottheiten Privilegien, von denen ein deutsches Mädchen mit indischem Vater nur träumen kann. Das Bild Kalis hat Nivedita durch ihre Jugend in Westdeutschland begleitet.
Mutter Birgit hat ein Faible für diesen Ethnokitsch, zu dem vielleicht auch ihr Vater Jagdish zählt. Für Nivedita war Kali aber mehr als bloß ein Wandvorhang im Wohnzimmer oder eine Winkepuppe auf dem Armaturenbrett. „Sie ist wild und wütend und trinkt das Blut ihrer Widersacher:innen“, schwärmt sie in ihrem Blog.
Als die Verwirrungen ihrer kulturellen Identität als selbsterklärtes (Achtung Ironie!) „Mixed-Race-Wonder“ greifbarer werden, also etwa während des Studiums in Düsseldorf, ist Kali längst zu Niveditas unsichtbarer Kombattantin und Stichwortgeberin geworden. „Wann immer ich und Kali redeten, ging es um race & sex.“ Dass sie unter dem Alias Identitti bloggt, war zwar eher einem dummen Missverständnis geschuldet, wie Nivedita zugibt. Aber mit diesem Namen kann man es in der Blogosphere immerhin zu bescheidenem Ruhm bringen.
Geschult an Postkolonialismus und Feminismus
Auch auf dem hiesigen Buchmarkt macht sich der Titel von Mithu Sanyals gleichnamigem Roman gut, auf den in diesem Frühjahr zahlreiche Veröffentlichungen drängen, die sich um Fragen der Identität als Person of Color in Kartoffelland, weiße Privilegien, strukturellen Rassismus und kulturelle Aneignung drehen. Nivedita ist vage der Autorin nachempfunden, Sanyal wuchs in Düsseldorf mit einer polnischen Mutter und einem indischen Vater auf.
Doch die biografischen Fährten – von sich und anderen Personen des öffentlichen Interesses –, die sie über die 420 Seiten von „Identitti“ (Carl Hanser Verlag, München 2021. 22 €) auslegt, sind nur Finten, die auf Seitenpfaden durch einen überhitzten Theorie-Parcours führen.
Die Kulturwissenschaftlerin Sanyal schreibt über Postkolonialismus und Feminismus, sie hat über die Kulturgeschichte der Vulva promoviert und ein bemerkenswertes Buch über die Ursprünge und Machtstrukturen sexualisierter Gewalt publiziert. Daran gemessen liest sich „Identitti“ – so furios, programmatisch, scharfzüngig, formenwandlerisch, wie der Roman geschrieben ist – eher wie ein fröhlicher Exorzismus all der Themen, über die Sanyal in der Vergangenheit schon seriösere Texte verfasst hat.
Die indische Starprofessorin ist weiß!
Niveditas Welt bricht wie ein Kartenhaus in sich zusammen, als sich die Starprofessorin Saraswati – Bestsellerautorin („Decolonize your Soul“), Mentorin und leibhaftig gewordene Kali – als Fake entpuppt. Die vermeintliche Inderin Saraswati, die weiße Student:innen hochmütig aus ihren Seminaren wirft, wurde tatsächlich als Sarah Vera Thielmann in Karlsruhe geboren. Sie dagegen behauptet, sich durch body modification als erste „transracial“ Person neu erfunden zu haben.
Die Boulevardpresse zerreißt sich daraufhin das Maul, die Universität lässt mit einer Stellungnahme auf sich warten, die People-of-Color-Studierenden gehen auf die Barrikaden und die AfD reibt sich die Hände.
Musterschülerin Nivedita, tief verletzt vom Betrug ihres Idols, wird von dem Shitstorm (auch Harry-Potter-Märchentante J. K. Rowling kann sich einen Tweet nicht verkneifen) mit hinfortgerissen. Sanyal beschreibt die pandemischen Zersetzungskräfte sozialer Medien treffend: „Nach ihrer durchwachten Nacht war Nivedita so mürbe, dass sie das Gefühl hatte, an den Rändern porös zu werden, so dass die Welt ungehindert in sie eindringen konnte und die Tweets sich anfühlten wie Viren, die ihre zerstörerische Wirkung erst noch entfalten würden.” Die Autorin hat vor vier Jahren selbst Erfahrungen mit Shitstorms gemacht.
Salven aus der Theorie-Trutzburg
„Identitti“ spielt in einer Parallelrealität, die Sanyal „Postsaraswati“ nennt und ein wenig an Buñuels „Der Würgeengel“ erinnert: Nivedita will ihre Professorin in ihrem Luxusloft (natürlich in einem migrantischen Wohnviertel) zur Rede stellen und schafft es dann drei Wochen nicht, das Apartment wieder zu verlassen. Und das, obwohl ihre intellektuelle Superheldin keine Anzeichen von Reue zeigt und auf jeden Vorwurf selbstherrlich und rhetorisch brillant aus ihrer Theorie-Trutzburg auf ihre ahnungslosen Kritiker:innen feuert.
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Die endlosen Twitter-Threads, die von außen auf diesen akademischen Schutzbunker einprasseln, stellen neben Niveditas Zwiegesprächen mit Kali und den Verbalscharmützeln im sonnendurchfluteten Loft den dritten Erzählstrang in „Identitti“ dar: ein als überdrehte Satire camoufliertes Proseminar, inklusive einer Saraswati-Leseliste im Anhang.
Die Autorin als Anwältin des Teufels
An Sanyal scheint selbst eine kleine Theorie-Totalitaristin verlorengegangen zu sein, so perfekt, wie sie in die Rolle der advocata diaboli schlüpft, um vermeintliche Gewissheiten kultureller Identität – weißer Menschen und von People of Color – aufzudröseln und neu gegeneinander abzuwägen. Nivedita, die sich ihre halbe Jugend „weiß“ fühlen wollte und sich nun des „Privilegs“ ihrer Desi-Identität ausgerechnet von der Frau beraubt fühlt, die sie erst gelehrt hat, stolz auf ihre Herkunft zu sein, fungiert als Einfallstor in diesen interkulturellen Diskurs.
Der Vorschlag, race wie Gender als fluide soziale Konstrukte zu begreifen (#racialdrag, tweeten Saraswatis Kritiker:innen aufgebracht), muss natürlich als gezielte Provokation der Autorin verstanden werden. „Race ist eine Story,“ referiert Saraswati polemisch, geschult von zahllosen Talkshow-Auftritten. Man wünscht sich, dass die Debatten über kulturelle Identität im Feuilleton öfter mal mit ähnlicher Lust und Selbstironie wie in „Identitti“ geführt würden. Eine Einladung zu Markus Lanz hätte sich auch Mithu Sanyal redlich verdient.
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