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Die Berliner Schriftstellerin Sharon Dodua Otoo, 1972 in London geboren.
© Mike Wolff

Ausblick auf den Bücherfrühling 2021: Kreatives Dazwischen

Ob bei Alem Grabovac, Asal Dardan oder Sharon Dodua Otoo: Herkunft spielt in der Literatur eine wichtige Rolle. Ein Ausblick auf das Bücherjahr 2021.

Die Kulturwissenschaftlerin Asal Dardan hat ein Problem damit, sich zugehörig zu fühlen, einer bestimmten Kultur angehören zu wollen oder gar zu müssen. „Ich bin keine Iranerin, und ich bin keine Deutsche, und ich bin doch beides“, schreibt sie in ihrem gleichermaßen autobiografischen wie politischen Buch-Essay „Betrachtungen einer Barbarin“.

Asal Dardan spricht deshalb auch von Zugehörigkeit als einem „Prozess“ und erklärt, sich stets an einem „Zwischenort“ zu befinden, selbst wenn sie nie „von einem vertrauten Ort an einen mir unbekannten Ort ziehen“ musste.

Die Schriftstellerin Shida Bazyar,1988 im rheinland-pfälzischen Hermeskeil geboren.
Die Schriftstellerin Shida Bazyar,1988 im rheinland-pfälzischen Hermeskeil geboren.
© Joachim Gern/Verlag

1978 in Teheran geboren, flüchteten Dardans Eltern 1979 nach dem Sturz des Schahs nach Deutschland, wo sie in Köln und Bonn aufwächst: „Meine Flucht ist eine Erzählung, keine Erfahrung“ .

Alem Grabovac, der in Würzburg geboren wurde, ist dagegen Ende der siebziger Jahre schon fünf Jahre alt und lebt meistens bei einer Pflegefamilie in Warmbronn bei Stuttgart und nicht bei seiner Mutter. Diese arbeitet zuerst in Würzburg in einer Schokoladenfabrik und montiert später in Frankfurt Autotachometer am Band. Zeit, um sich um ihren einzigen Sohn zu kümmern, hat sie deshalb keine.

„Meine Mutter wurde 1949 in Maovice, einem kleinen Gebirgsdorf im kroatischen Hinterland, geboren. Ihre Familie war arm, das Leben im Karst hart und beschwerlich.“

Dmitrij Kapitelman schreibt über eine "Formalie in Kiew"

So stellt Grabovac zu Beginn seines Debütromans „Das achte Kind“ seine Mutter vor, um dann zu erzählen, wie er als Kind eines vermeintlich lange toten, aus Bosnien stammenden Vaters und einer kroatischen Mutter in der Bundesrepublik der siebziger und achtziger Jahre aufwächst. Dabei fühlt er sich als das „achte Kind“ bei der Pflegefamilie trotz eines den Holocaust leugnenden Nazi-Pflegevaters viel wohler als bei seiner Mutter und ihrem neuen Freund Dušan.

Alem Grabovacs und Asal Dardans Bücher, die Ende Januar, Anfang Februar erscheinen, sind nur zwei von vielen Veröffentlichungen des kommenden Frühjahrs, in deren Zentrum die Herkunft der jeweiligen Erzählerinnen und Erzähler oder die ihrer Eltern steht. Beispielsweise stellt die 1972 in London geborene und in Berlin lebende Bachmannpreisträgerin Sharon Dodua Otoo mit Ada eine Heldin in das Zentrum ihres Romans „Adas Raum“, die laut Verlag „nicht eine, sondern viele Frauen ist“ und sich „in Schleifen“ von Ghana über London nach Berlin bewegt.

Oder der 1986 in Kiew geborene Dmitrij Kapitelman, der 1994 als sogenannter Kontingentflüchtling nach Deutschland kam: In seinem Roman „Eine Formalie in Kiew“ macht er, der besser sächseln kann als so mancher Sachse, eine Reise nach Kiew und begibt sich hier auf die Spuren seiner Kindheit.

Maxim Biller sprach von der "Chamisso-Besserungsanstalt"

Die seinerzeit aus Aserbeidschan ebenfalls als Kontingentflüchtling nach Deutschland gekommene Kollegin Olga Grjasnowa hat Kapitelmans Familienroman den Satz mitgegeben: „Erst durch dieses Buch ist das Verstehen der Migration, des Nicht-Dazugehörens und des Dazwischen möglich.“

Noch gar nicht so lange her ist es, dass man deutschsprachige Autoren und Autorinnen, die oder deren Eltern nicht in Deutschland geboren wurden, gezielt suchen und auch fördern musste. Immer wieder fand man dabei Feridun Zaimoglu, Abbas Khider, Saša Stanišić oder Emine Sevgi Özdamar.

Und 2014 machte sich Maxim Biller noch lustig über die „Jungen und Mädchen aus der Chamisso-Besserungsanstalt“. Damit meinte er die Preisträger und Preisträgerinnen des Adalbert-Chamisso-Preises, eines Literaturpreises, der nur Autoren und Autorinnen nicht deutscher Herkunft verliehen wurde.

Die 1978 in Teheran geborene Kulturwissenschaftlerin Asal Dardan.
Die 1978 in Teheran geborene Kulturwissenschaftlerin Asal Dardan.
© Foto; Hoffmann und Campe Verlag

Als „süße Gastarbeitergeschichten“ tat Biller seinerzeit die Bücher von Jagoda Marinić, Melinda Nadj Abonji oder Selim Özdogan ab, tadelte, dass die „Chamisso-Literatur“ nur dem deutschen Mainstream folgen würde und fragte: „Wo bleibt die große Welle, die alles Bestehende kurz einmal wegspült und die Sicht auf etwas Neues freigibt?“

Diese Welle ist lange da. Man darf da schon mindestens von einer zweiten Welle sprechen. Diese hat die häufig für ihre Biederkeit, Wohlstandssaturiertheit und Stofflosigkeit so gescholtene deutschsprachige Literatur hinweggerissen, sie in jedem Fall um viele neue und andere Stimmen bereichert.

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2019 gewann Saša Stanišić den Deutschen Buchpreis mit einem Buch über die Geschichte seiner Flucht aus Bosnien und seines Aufwachsens in Deutschland, stimmigerweise schlicht „Herkunft“ betitelt. Zwei Jahre zuvor war der Chamisso-Preis von der Robert-Bosch-Stiftung, die ihn ins Leben gerufen hatte, eingestellt worden, auch weil er wegen der einsetzenden Vielfalt der deutschsprachigen Literatur etwas anachronistisch wirkte. 

Das bewies nicht zuletzt der Deutsche Buchpreis an Stanišić, aber auch schon die Buchpreisverleihungen an  Melinda Nadj Abonji 2010 und Térezia Mora 2013. Vergangenes Jahr stand Deniz Ohde mit ihrem Bildungsroman „Streulicht“ über ein Mädchen aus dem Frankfurter Westen, deren Vater aus der Türkei stammt, auf der Shortlist dieses Preises.

Ohde war nur eine von vielen jungen Autorinnen, die 2020 auf sich aufmerksam machten, man denke an Ronya Othmann mit ihrem Roman „Die Sommer“, an Olivia Wenzel und ihr Buch „1000 Serpentinen Angst“, an Cemile Sahins „Alle Hunde sterben“ oder Olga Grjasnowas „Der verlorene Sohn“. Die Stoffe dieses Bücher sind jedes Mal andere.

Die Beschäftigung mit den eigenen Wurzeln spielt darin häufig eine Rolle, aber nicht ausschließlich, und auch die Erzählweisen sind stets unterschiedlich, die Art, wie die Stoffe bearbeitet werden. Eine Sicht auf Neues jedoch, die hatte man bei all diesen Autorinnen, ästhetisch wie stofflich.

Mithu Sanyals Debütroman heißt „Identitti“

Das Bücherfrühjahr 2021 knüpft daran an. Lena Gorelik, 1981 in St. Petersburg geboren, porträtiert in ihrem autobiografischen Roman „Wer wir sind“ ein Mädchen, das 1992 mit den Eltern, der Großmutter und dem Bruder aus Russland nach Deutschland ausreist.

Die Kulturwissenschaftlerin Mithu Sanyal, die 1971 in Düsseldorf geboren wurde und schon Sachbücher wie „Vulva. Das unsichtbare Geschlecht“ und „Vergewaltigung. Aspekte eines Verbrechens“ geschrieben hat, erzählt in ihrem turbulenten, überdrehten ersten Roman mit dem vielsagenden Titel „Identitti“ von einer indischstämmigen Frau namens Nivedita, die ihre Professorin für Postcolonial Studies, Dr. Saraswati über alles verehrt. Nun stellt sich heraus, dass Saraswati keine Person of Colour ist, als die sie sich stets beschrieben hat. Sie wird als Weiße entlarvt, als „Karnevalsinderin“ beschimpft, des „Black Facings“ beschuldigt.

„Während das Netz Saraswati hetzt und Demos ihre Entlassung fordern“, schreibt der Verlag in seiner Ankündigung, „stellt Nivedita ihr intimsten Fragen: „Sind wir einfach wir selbst, oder vor allem Frauen oder Männer, Schwarze oder Weiße? Kann man Weißsein loswerden?“

Auch die 1988 im rheinland-pfälzischen Hermeskeil als Tochter iranischer Emigranten geborene Shida Bazyar hat nach ihrem umjubelten Debüt „Nachts ist es leise in Teheran“ mit „Drei Kameradinnen“ einen weiteren Roman geschrieben. Hani, Kasih und Saya heißen die jungen Frauen mit nichtdeutschem Hintergrund, die Bayzar porträtiert.

Fastorte aus Phantasien und Sehnsüchten

Dass die drei so eng befreundet sind, ist der Halt ihres Lebens, denn sie glauben: „Uns gibt es in dieser Welt nicht. Hier sind wir weder Deutsche noch Flüchtlinge, wir sprechen nicht die Nachrichten und wir sind nicht die Expertinnen. Wir sind irgendein Joker, von dem sie noch nicht wissen, ob sie ihn einmal zu irgendetwas gebrauchen können.“

So unterschiedlich die Romane von Gorelik, Sanyal, Bazyar oder Otoo sind, die Bücher von Dardan, Kapitelman, Grabovac oder auch Hengameh Yaghoobifarah, die mit dem Roman „Ministerium der Träume“ debütiert, so anders ihr formaler Angang ist, ihr literarischer Zugriff, ihre mitunter pessimistische Sicht auf die deutsche Gesellschaft, wie bei Dardan oder Bazyar – es eint sie eine widersprüchliche, aber betont unlarmoyante Vitalität.

Das von Grjasnowa benannte „Dazwischen“ lässt sich auch als kreative Bereicherung empfinden, die „Zwischenorte“ können erfahrbar gemacht werden, gerade weil die Autorinnen und Autoren davon berichten. So wie es Asal Dardan einmal ausdrückt: „Das ist das Seltsame am Leben zwischen mehreren Welten, es bietet keine ganzen, sondern aus Phantasien und Sehnsüchten gebaute Fastorte. Orte an denen man bleiben will, auch wenn man nie dort gewesen ist.“ Diese Literatur erzählt davon, sie ist selbst so ein Ort.

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