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Berliner Ensemble mit Publikum. Freitagabend bei "Panikherz".
© Annegret Hilse/AFP

Erst Coronatest, dann Livekultur: Hauptsache, wieder Theater!

Großer Auftrieb und freudige Erregung im Berliner Ensemble: Das „Pilotprojekt Testing“ des Kultursenats startet mit „Panikherz“

So eine Pandemie wirbelt nicht nur den Alltag durcheinander. Sie lässt auch verstaubte Redewendungen in ganz neuem Licht erscheinen. Zum Beispiel: „Unter die Leute gehen“. So was wurde früher Sozialmuffeln mit überproportionalem Anteil an Joggingkleidung in der Garderobe geraten.

Jetzt steht der Schriftsteller Benjamin von Stuckrad-Barre auf der Bühne des Berliner Ensembles, reißt sich euphorisch die Maske runter und ruft, dass er schon ewig nicht mehr unter Menschen war – was ihm den frenetischen Applaus von 350 Besucherinnen und Besuchern einbringt, für die größtenteils wohl das gleiche gilt. Es herrscht Ereignisstimmung, Kamerateams drängen durch die Saaltüren, Blitzlichter gewittern. So viel Auftrieb herrscht sonst nur, wenn am Kudamm die komplette Thalbach-Familie gemeinsam berlinert.

Auftakt des Testing-Pilotprojekts

Und der Abend ist ja tatsächlich etwas Besonderes. Es läuft das „Pilotprojekt Testing“ des Kultursenats, an dem in den kommenden Wochen sieben Institutionen teilnehmen, darunter auch die Volksbühne, die Staatsoper, das Konzerthaus. Das Berliner Ensemble macht den Anfang.

Die Tickets für „Panikherz“ – die erste Vorstellung am Haus nach fast fünf Monaten Lockdownpause – waren binnen vier Minuten ausverkauft, in Popstargeschwindigkeit also. „Leichter, einen Impftermin zu bekommen“, wie Stuckrad-Barre völlig richtig feststellt. D

as Procedere des Pilotprojekts ist dabei simpel und sieht so aus: morgens zum Test, abends ins Theater. In der Eintrittskarte enthalten ist ein kostenloser Antigen-Schnelltest, den man bei fünf über die Bezirke verteilten Zentren buchen kann. Klar, tagesaktuell muss der Negativ-Nachweis sein.

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Im vorfrühlingshaften Schneeregen an der Kreuzberger Prinzessinnenstraße trifft man am Vorstellungsmorgen gleich auf Kolleginnen und Kollegen. Vielleicht wird das Testzentrum in Zukunft das neue Theaterfoyer. Der Raum für gepflegten Plausch, nur eben mit QR-Code in der Hand statt einem Glas Wein.

Schön, wie sich beim Testen das Volk mischt

Überhaupt schön, wie sich hier das Volk mischt. Da warten die Kultur-Aficionados neben den Mallorca-Urlaubenden in spe – wobei man sich das Flughafenflair auch abends am Berliner Ensemble abholen kann. Die Schaukästen an der Front sind zu leuchtenden Wegweisern umfunktioniert, um die Publikumsschlangen zu lenken, vor der Tür stehen Lautsprecherboxen, aus denen es regelmäßig tönt: „Bitte halten Sie Ihr personalisiertes Ticket, ihr negatives Testergebnis und Ihren Personalausweis oder Pass bereit“.

Zuvor hieß es beim Start des "Pilotprojekts Testing": Anstehen mit ausreichend Abstand.
Zuvor hieß es beim Start des "Pilotprojekts Testing": Anstehen mit ausreichend Abstand.
© Annegret Hilse/AFP

Wenig verwunderlich, dass auch ein paar Aluhüte den Weg gefunden haben. Der Bertolt-Brecht-Statue ist ein Mundschutz mit der Aufschrift „1984“ umgehängt worden, davor hat ein Protest-Grüppchen George-Orwell-Ausgaben ausgebreitet sowie einen Zettel in Klarsichthülle: „Schluss mit der Testpandemie“.

Der große Bruder, erläutert ein freundlicher Herr, freue sich über ein Datensammel-Event wie dieses. Und man denkt: soll er doch, der Bruder. Hauptsache, wieder Theater. Zumal die Logistik schnurrt.

Mit nur siebenminütiger Verspätung kann Intendant Oliver Reese den Abend eröffnen, und das, obwohl so viele aufgeregte Medienschaffende durch den Saal schwirren und Menschen Mikrofonangeln vor den Mund-Nasen-Schutz halten: „Wie fühlt sich das an? Wie haben Sie es geschafft, ein Ticket zu bekommen? Sollten Theater auch bei steigenden Inzidenzwerten offen bleiben?“

350 Glückliche im Schachbrettmuster

Ein aufbruchsfreudiger Oliver Reese erläutert den durchweg negativ getesteten 350 Glücklichen – die nach Schachbrettmuster im wieder voll bestuhlten, zu 50 Prozent ausgelasteten Saal platziert sind – noch kurz und bündig das Sicherheitskonzept des Abends, inklusive optimierter Belüftungsanlage.

Der deutsche Ingenieursstolz, er lebt in Zeiten bröckelnden Vertrauens im Theater weiter. Vielleicht sollte man den Bühnen auch das Impfen übertragen, per Kombiticket: Vorstellung mit Schuss. Natürlich nur, wenn dabei keine Gefälle entstehen, also: das DT verabreicht Biontech, während die freie Szene AstraZeneca spritzen muss.

Livehaftig. Owen Peter Read in Benjamin von Stuckrad-Barres „Panikherz“.
Livehaftig. Owen Peter Read in Benjamin von Stuckrad-Barres „Panikherz“.
© Moritz Haase/Berliner Ensemble

„Auf geht’s, Theater!“, reißt einen Reese aus solchen Gedanken. „Panikherz“ nach dem Roman von Stuckrad-Barre ist eine drei Jahre alte Inszenierung des Intendanten, aber ehrlich: auf dem Programm könnten auch Bertolt Brechts gesammelte Klosprüche stehen.

„Mensch, ist das schön, endlich wieder Theater zu spielen“, ruft der Schauspieler Nico Holonics zwischendrin kurz abseits seiner Rolle, was ihm lauten Szenenapplaus einbringt und das Grundgefühl der Veranstaltung präzise fasst. Wobei: thematisch passt die Ansetzung natürlich schon.

Die Nase schmerzt, vom Koks oder dem Stäbchen

Weil es „ein lebensbejahendes Stück ist, bei dem die Gesundheit im Vordergrund steht“, wie der Autor selbst sagt. In „Panikherz“ beschreibt Stuckrad-Barre nicht nur auf sehr mitnehmende Weise seine Udo-Lindenberg-Verbundenheit, sondern auch seine krasse Suchtgeschichte.

Die wird unter den gegebenen Umständen noch andockfähiger, weil einem selbst die Nase schmerzt. Bloß eben nicht vom Koks, sondern von den tief reingeschobenen Wattestäbchen am Morgen. Kurzum: ein geglückter Test. Diese erste große Kulturveranstaltung in Deutschland seit November 2020 lässt einen Weg aus der Dauerschließmisere erkennen.

Klar, es müsste im Falle der Verstetigung zum Beispiel noch geklärt werden, wer die Testkosten übernimmt. Aber das sollte sich regeln lassen. „Kommen Sie gut nach Hause und besaufen Sie sich allein“, ruft Stuckrad-Barre am Ende. Bleibt hinzuzufügen: Und gehen Sie mit Ihrem negativen Testergebnis bald wieder unter die Leute.

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