Verbotenes Stück bei Unidram in Potsdam: Einfach ein Mensch sein
Die brasilianische Companie Dos à Deux zeigte ihr Stück „Gritos“ beim internationalen Theaterfestival Unidram. In ihrer Heimat ist das Stück verboten.
Potsdam - Fragmentierte Körper, ein Kopf im Käfig und zerrissene Umarmungen. Markante und archaisch anmutende, in der Mehrheit düstere Bilder und Situationen prägten den brasilianischen Beitrag „Gritos“, der am Mittwoch den zweiten Abend des diesjährigen Unidram-Festivals eröffnete. Die Düsternis war nicht nur dem anhaltenden Zwielicht zuzuschreiben, in dem „Schreie“ – so der deutsche Titel – hauptsächlich stattfand, sondern auch der Thematik, die darin verhandelt wurde: Die Schwierig- beziehungsweise Unmöglichkeit, in Ländern wie Brasilien offen homo- oder transsexuell zu leben.
Nach wie vor wird in Gesellschaften mit starren und tradierten Männlichkeitsbildern wie Machismo offen Gewalt gegen Menschen ausgeübt, die sich diesen sozial festgeschriebenen Geschlechterrollen verweigern und nach ihrer eigenen Identität suchen. Seit dem Amtsantritt des rechtsextremen Präsidenten Bolsonaro Anfang 2019 hat sich nicht nur deren Situation extrem verschlechtert. Rassistische, sexistische und homophobe Äußerungen sind – trotz vorhandener gesetzlicher Möglichkeit der gleichgeschlechtlichen Ehe – wieder salonfähig.
In „Gritos“ stehen die beiden Spieler Artur Ribeiro und André Curti von der Theaterkompanie Dos à Deux anfangs wie Schemen hinter rostbraunen Gitterwänden, die an frühere metallene Federroste aus Betten erinnern. In dieser ersten Momentaufnahme ist ihr Geschlecht nicht klar erkennbar, doch weil man „weiß“, dass sie Männer sind, nimmt man sie als solche an.
Wenig später schlüpft einer von ihnen in den Körper einer weiblichen Person, in dem er sich Brüste umschnallt und in am Boden liegenden schlanken Frauenbeine schlüpft. Ein männliches Geschlechtsteil bleibt gleichzeitig deutlich sichtbar. Genauso wie ein zweiter Kopf, den der Spieler mit geringem Abstand vor seinem eigenen trägt. Dieser Umgang mit der Verschmelzung von Vorhandenem und Gewünschtem findet bei Dos à Deux mit großer Virtuosität statt. Es ist eine deutlich sichtbare Dualität zwischen Spieler und Puppe vorhanden, doch die Übergänge zwischen beiden agierenden Teilen sind ungemein fließend.
Nicht nur körperlich, sondern vor allem auch psychisch wie in den alltäglichen Situationen zwischen der transsexuellen Person und der Mutter – einer alten hilfsbedürftigen Frau – sichtbar wird. Spielerisch grandios, wie diese Alte lediglich durch einen Kopf, der auf einer Stuhllehne steckt und mit zitternden Händen auf der Sitzfläche und nackten Füßen darunter dargestellt wird. Gleichzeitig stockt einem der Atem ob ihrer fragmentierten Körperlich- und Gefühllosigkeit.
Es ist sehr berührend, wie sich die transsexuelle Person ungemein einfühlsam um ihr körperliches Wohlergehen bemüht. Doch auch in dieser wahrscheinlich innerfamiliären Beziehungssituation wird mit wenigen Gesten deutlich, dass die Alte mit dieser, ihrer Pflegeperson deutlich in Spannung steht. Mehrmals wischt sie deren liebevolle Berührungen schroff weg.
Es tut weh, dabei zuzusehen. Weil man vermutet, dass es sich nicht gegen die Geste an sich, sondern gegen den, der sie ausführt, richtet. In der Nacht geht der Transsexuelle, der sich mit Perücke, Abendkleid und Handtasche immer mehr in eine Frau verwandelt, auf die Straße. Auf der Suche nach Liebe wird er hinterrücks erschossen. Dos à Deux gelingt es, neben lange nachwirkenden Bildern vor allem die innere und äußere Ausweglosigkeit, das psychische Gefangensein in der bedrückenden Situation darzustellen.
Besonders im zweiten Part der ungemein intensiven Inszenierung, in der zwei Männer durch äußere und innere Zäune – wie der Kopf im Käfig – voneinander getrennt nicht körperlich zueinander finden können und dürfen. Bei dem dritten, der „Norm“ entsprechenden, männlichen-weiblichen Paar geschieht das in bekannter Weise. Und wenig später gebiert die Frau ein Kind. Verwirrend und faszinierend zugleich, wie sehr Dos à Deux in der gesamten Inszenierung mit Eindeutigkeiten und (Un-)Gewissheiten spielen.
Doch dieses junge Menschenkind ist die eigentliche „Lösung“. Sekundenlang steht es zwischen den beiden Menschen, die es aus dem Koffer, den seine Mutter auf ihrer Flucht trug, bergen und Stück für Stück ein zweites Mal „gebären“. Deutlich sichtbar ohne primäre Geschlechtsmerkmale, und erst auf dem Weg der Entwicklung einer geschlechtlichen, religiösen oder sozialen Identität: Einfach ein Mensch sein.
Hier wird deutlich, dass Geschlechteridentität vor allem eine soziale Zuschreibung ist und mit der ungemein vielfältigen Natur des Menschen wenig zu tun hat. Artur Ribeiro und André Curti gelingt es mit „Gritos“ ein kräftiges poetisches Licht in die Herzen und Köpfe ihrer Zuschauer zu bringen. In Brasilien ist die Inszenierung inzwischen verboten worden.
Weiteres Programm: https://www.unidram.de/
Astrid Priebs-Tröger