Putins historische Verirrungen: Ein Krieg wie kein anderer
Parallelen zum Kosovo, zur Nato-Intervention von 1999? Russlands Präsident legitimiert seinen Angriff auf die Ukraine mit zeithistorischen Verzerrungen.
Als Bundeskanzler Olaf Scholz am 15. Februar seinen Amtskollegen Wladimir Putin im Kreml besuchte, kam es zu einem andeutungsreichen Austausch.
Scholz beschwor Europas Friedensordnung. Putin konterte strategisch: „Aber wir haben doch bereits Krieg in Europa erlebt! Dieser Krieg wurde von der Nato gegen Jugoslawien entfesselt“, und noch dazu, erinnerte er, sei das ohne Mandat der Vereinten Nationen geschehen.
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So war es, denn China und Russland hatten angekündigt, jeglichem Antrag auf ein Mandat ihr Veto entgegenzuhalten.
Fingerzeige auf die Nato-Intervention vom Frühjahr 1999 gehören zu Putins politischen Gesten. Er konstruiert damit eine Analogie, die nicht Hand noch Fuß hat, was ihm durchaus bewusst ist. Russland hatte den damaligen Einsatz massiv kritisiert, und Putin will ihn auf der einen Seite keineswegs als Präzedenzfall legitimieren.
Putin: Im Donbass geschieht ein Völkermord
„Das ist ein sehr schlechtes Beispiel“ fügte er Scholz gegenüber an, „aber dieses Beispiel hat es gegeben.“ Und Putin beteuerte, so etwas wolle er „natürlich nicht“. Daher habe Russland ja den Dialog zu Sicherheitsfragen angeboten. Je nachdem, wie sich der Dialog gestalte, werde sich auch die Situation zu den Fragen im Raum entwickeln. „Uns machen sie genauso Sorgen wie Ihnen.“
Olaf Scholz sollte zwischen den Zeilen lesen, dass das „schlechte Beispiel“ Kosovo als russische Option und in einer russischen Version am Horizont auftaucht. Höflich erwiderte der Kanzler: „Ich will gerne noch einmal sagen, dass ich glaube, dass es in Jugoslawien eine etwas andere Situation gab. Es gab die Gefahr eines Völkermordes. Das musste verhindert werden.“ Er sei froh, dass es mittlerweile in der Region Frieden und „eine Perspektive in Richtung der Europäischen Union“ gebe.
Mit dieser diplomatischen Volte und mit dem Hinweis auf Kriegsverbrechen im Kosovo – die das Den Haager UN-Tribunal für Ex-Jugoslawien bestätigt hat – wollte Putin den Gast auf Friedensmission nicht entkommen lassen. Jetzt drehte er seine implizite Drohung ins Explizite.
Diese Analogie hat keine Substanz
Putin erwiderte: „Gestatten Sie mir, Folgendes nachzuschieben: Nach unserer Einschätzung ist es so, dass das, was im Donbass geschieht, heute an Völkermord grenzt.“ Auf die Weise zog er eine direkte Analogie vom Nato-Einsatz im Jahr 1999, den Russland verurteilt hatte, zur aktuellen Lage in der Ost-Ukraine, um den Anschein einer Legitimation zum Angriff zu konstruieren.
Neben dem Beschwören zeithistorisch verzerrender Analogien, wonach in der Ukraine eine „Nazi-Junta“ an der Regierung sei, welche die „Entmilitarisierung und Entnazifizierung der Ukraine“ notwendig mache, da russische Menschen seit acht Jahren „vom Kiewer Regime unterdrückt und ermordet“ würden, zählt die Kosovo-Analogie zu Putins Propaganda-Waffen.
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Gleichwohl, die Analogie hat keine Substanz. Sie ist ebenso geschichtsklitternd und perfide wie der Nazi-Vergleich. Während des Kalten Krieges war das blockfreie Jugoslawien vom Westen wie von der Sowjetunion wirtschaftlich hofiert worden.
Nach 1989 fiel die Unterstützung fort, ökonomische Krisen erschütterten das Land. Bei der Föderation kam es zu Ranggefechten zwischen den Bundesstaaten, Serbien unter Präsident Slobodan Milošević beanspruchte Suprematie und zettelte Bürgerkriege gegen Kroatien wie gegen Bosnien-Herzegowina an. In ethnischen Minderheiten wurden Sündenböcke gesucht, und sowohl kroatische als, vor allem, serbische Truppenteile begingen „ethnische Säuberungen“.
Im Kosovo gab es Massaker an dörflicher Bevölkerung
Nach den Zerfallskriegen von 1992 bis 1995 war von der Föderation nur noch ein Rumpf-Jugoslawien übrig, Serbien-und-Montenegro mit den beiden autonomen serbischen Provinzen Vojvodina im Norden und Kosovo im Süden.
Der Einsatz der Nato-Allianz von 1999 hatte dem Schutz der von Serbien attackierten, südserbischen Provinz Kosovo gegolten. Diese Region ist mehrheitlich von Albanisch sprechender Bevölkerung bewohnt. Über Jahre hinweg war die ethnisch albanische Gruppe im Kosovo von serbischen Milizen und Behörden drangsaliert und entrechtet worden. An Schulen war die albanische Sprache verboten worden, Kinder wurden heimlich unterrichtet.
Es gab mehrere Massaker an dörflicher Bevölkerung. Ziviler, gewaltfreier Widerstand unter dem alternden Präsidenten Ibrahim Rugova, der „ein Gandhi des Kosovo“ genannt wurde, blieb ohne Erfolg. Verzweifelte junge Leute entschlossen sich 1996 zu bewaffnetem Widerstand. Freilich war ihre kleine „Kosovo-Befreiungsarmee“ chancenlos gegen das serbische Militär.
Über Jahre bemühte sich die internationale Gemeinschaft um Vermittlung und Friedensverhandlungen. Im Oktober 1998 wurde eine internationale OSZE-Mission mit Feldbüros im Kosovo eingerichtet (OSCE Kosovo Verification Mission), die einen Waffenstillstand anbahnen sollte.
Ihr Auftrag war, dafür zu sorgen, dass sich serbische „Sicherheitskräfte“ zurückziehen, die die Zivilbevölkerung terrorisierten, und den Boden zu bereiten für künftige Friedensdialoge. Die Mission stellte hunderte von Länderreports zusammen und sammelte tausende Aussagen von Flüchtlingen. Protokolliert wurden Berichte zu Morden, Folter, Misshandlungen, Vergewaltigung, willkürlichen Inhaftierungen.
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Nichts auch nur annähernd Vergleichbares ist aus der Donbass-Region bekannt, keine OSZE-Mission wurde entsandt; Faktensuche direkt vor Ort ist eher verhindert als ermutigt worden, um Putins korrumpierendes Narrativ vom „Genozid“ in die Partitur des Kriegsorchesters hineinschreiben zu können.
Parallel zur OSZE-Mission liefen diplomatische Gespräche, auch unter transatlantischer Vermittlung, die Anfang Februar 1999 in den Entwurf des „Friedensvertrag von Rambouillet“ mündeten. Er sah die Stationierung einer internationalen Friedenstruppe vor, um den Waffenstillstand zu überwachen. Das französische Schloss und ein Kongresszentrum in Paris waren vom 6. Februar bis 23. März die Schauplätze der Verhandlungen über den Vertrag.
Teilgenommen hatten Delegationen der Führung aus Serbien wie aus dem Kosovo, Vermittler waren aus den USA, der Europäischen Union und aus Russland entsandt worden. Jugoslawien verweigerte jedoch die Unterzeichnung.
Da ein Mandat durch den UN-Sicherheitsrat nach der Veto-Ankündigung von China und Russland – damals unter Präsident Jelzin – ohne Aussicht war, intervenierte die Nato ohne dieses. Am 24. März 1999 begannen die Luftschläge der Allianz auf militärstrategische Einrichtungen Jugoslawiens. Das erklärte Ziel waren der Rückzug der serbischen Armee aus dem Kosovo und Frieden für die Region.
1999 und 2022 sind nicht miteinander zu vergleichen
Beides wurde mit der UN-Resolution 1244 vom 10. Juni 1999 erreicht, wonach internationale Friedenstruppen und eine internationale Verwaltung im Kosovo installiert wurden. Als die Nato im Kosovo keinen eigenen Sektor für Russland einrichten wollte, um das Gebiet nicht ethnisch zu spalten, besetzten russische Fallschirmjäger, die zu den Friedenstruppen im benachbarten Bosnien gehörten, in der Nacht des 12. Juni 1999 überraschend den Flughafen von Kosovos Hauptstadt Pristina.
Großes diplomatisches Geschick britischer Offiziere verhinderte eine Eskalation. Auf Russlands Partizipation an der KFOR, der Kosovo-Friedenstruppe, einigte sich Moskau mit der Nato.
Die Situation von 1999 ist nicht zu vergleichen mit der aktuellen Lage im Osten der Ukraine. Parallelen existieren jedoch da, wo Putin historische Ereignisse als ideologische Versatzstücke instrumentalisiert. Milošević berief sich ebenfalls gern auf den Zweiten Weltkrieg.
Er etikettierte Jugoslawiens ethnische Bosniaken, Albaner und Kroaten als „Faschisten“, Serben hingegen sämtlich als „Partisanen“ im Kampf gegen die Wehrmacht. Weit holte er historisch aus, wenn er den Mythos einer Schlacht zwischen Serben und Osmanen auf dem kosovarischen Amselfeld von 1389 beschwor.
Seine Reden verwandelten die Türken von damals in die Albaner der Gegenwart, von denen es das Amselfeld zurückzuerobern gelte.
700.000 Kosovo-Albaner wurden gewaltsam vertrieben
In solcher Mühe, Überblendungen zu fabrizieren, sieht man ihn als rhetorischen Vetter von Putin.
Mit Massenmorden und massenhafter Vertreibung albanischer Bevölkerung wollte das Regime Miloševik das Kosovo „ethnisch säubern“. Wer damals von Kosovos Grenzen zu Albanien oder Mazedonien berichtete, sah Tag und Nacht Flüchtlingstrecks aus der Provinz strömen.
Am Den Haager UN-Tribunal kam man zu dem Schluss, dass mindestens 700.000 Kosovo-Albaner gewaltsam vertrieben worden waren und 230.000 zu Binnenflüchtlingen wurden. Es handelte sich um nahezu die gesamte nicht-serbische Bevölkerung der kleinen Provinz.
Journalisten, die mit den ersten Nato-Bodentruppen ins Land kamen, konnten die von serbischen Milizen verwüsteten und geplünderten Büros der OSZE-Mission sehen. Akten lagen am Boden, Mobiliar war zerstört. Trümmer im Kosovo rauchten noch, Böden waren vermint.
Es roch nach Kadavern. Fast alle Minarette der Moscheen waren umgeknickt wie gefällte Bäume. Als die Nato-Panzer ins Land rollten, kamen die dort Gebliebenen aus ihren Verstecken, säumten die Straßen und begrüßten die internationale Armee. Für sie brachte die Nato Frieden, der, mit allen Defiziten, bis heute hält. Nach einem Krieg, der mit Vernunft und Einsicht bei den serbischen Verantwortlichen, nicht hätte sein müssen.